Psychologie und Philosophie, Schulbuch [Psychologie Teil]
52 2.2 Erwartungen, Einstellungen, Wertigkeiten In ihrer konkreten Form gibt es so etwas wie unbefangene Wahrnehmung nicht. Alle Wahrnehmung hängt von Wissensbeständen ab, über die der/die Betrachter/in verfügt. Dies gilt schon auf der physiologischen Ebene, wie wir gesehen haben, es gilt umso mehr bei jeder Art von Leerstellenfüllung. Man sieht nicht so sehr, was ist , sondern das, wofür man ein Auge hat . Nehmen wir an, drei Menschen wandern durch einen Renaissancepalast in Florenz. Einer sieht vielleicht bemalte Zimmerdecken und alte Möbel, sonst aber nichts. Kunst und Geschichte sind nicht so ganz sein Ding. Neben ihm geht ein/e Kunsthistoriker/in, der/die eine Vielzahl ganz konkreter Gegenstände und Dekorationselemente wahrnimmt. Er/Sie sieht außerdem schon auf den ersten Blick, dass diese Dinge aus unterschiedlichen Epochen stammen, und zu einigen Gegenständen und Fresken fällt ihm/ihr ein Name ein. Ein/e ebenfalls gut informierter/informierte Kunsthändler/in nimmt die Dinge in denselben Räumen vielleicht ausschließlich als Wertgegenstände wahr, denen er/sie sofort unterschiedli- che Preise zuordnet. Den Ramsch dazwischen könnte man Ignorantinnen/Ignoranten auch ganz gut verkaufen, denkt er/sie vielleicht noch. Alle drei nehmen etwas anderes wahr, je nachdem, was ihre Vorbildung und ihr Erwartungshorizont zulassen. Es geht also nicht nur um Vorkenntnisse, sondern auch um Wertigkeiten. Wem künstlerische Hervorbringungen für sich genommen etwas bedeuten, sieht in ihnen etwas anderes als jemand, für den sie nur Verkaufsobjekte darstellen. Was uns jeweils wichtig ist, sehen oder hören wir eher als Dinge, die uns gleichgültig sind. Wer achtlos in einer Zeitung blättert oder sich von Fernseh- oder Radionachrichten berieseln lässt, wird genau dann aufmerksam, wenn etwas vorkommt, das ihr/sein Interesse weckt. Menschen, die sich stark für Literatur interessieren, stolpern fast zwangsläufig über die Meldung, wer heuer den Literaturnobelpreis bekommen soll, auch wenn sie gar nicht daran gedacht haben, dass die Nominierung schon wieder anstand. Welches Ergebnis Bayern München gegen den FC Chelsea erzielt hat, wird ihnen hingegen womöglich selbst dann nicht auffallen, wenn sie einen Bericht darüber im Radio hören. Anregungen zum selbstständigen Weiterarbeiten Geben Sie ein eigenes Beispiel für Wahrnehmungen, die je nach Wissensbeständen unterschiedlich ausfallen! Alles menschliche Zusammenleben und jede Deutung eines Ausdrucks beruht auf der Wechselwirkung zwischen Erwartung und Beobachtung, den Wellen von Erfüllung und Enttäuschung, von richtigem Raten und falschen Ansätzen, die unseren Erlebnisstrom ausmachen. Wir erwarten zum Beispiel von einem Kol- legen, dass er „Guten Morgen“ sagt, wenn er ins Büro kommt, und die Erfüllung dieser Erwartung ist etwas so Selbstverständliches, dass wir sie kaum beachten. Sollte er aber einmal eintreten, ohne zu grüßen, stellen wir uns gegebenenfalls sofort um und machen uns auf weitere Anzeichen schlechter Laune oder feindse- liger Handlungen gefasst. Ernst Gombrich: Kunst und Illusion (1978), S. 57. GrundlaGEn 1 AuSFüHrunG Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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