Zeichen 2, Schulbuch
Seltsame Gestalten 58 Ein Stierkopf Pablo Picasso (1881–1973) hat gezeigt, wie es geht. Sattel und Lenkstange eines Fahrrades reichen: ein Stierkopf. Die Vorstellung ist so zwingend, dass wir erst auf den zweiten Blick an den ursprünglichen Verwendungszweck der Bestandteile dieses Kunstobjekts denken. Diese Gegenstände wurden für einen bestimmten Gebrauch entwickelt. Ihre Form lässt uns im gewohnten Zusammenhang ihren Zweck erken- nen. Würden wir Sattel und Lenkstange auf dem Rahmen eines Fahrrades vertauschen, wäre dieser Funktionszusammenhang gestört. Die Anord- nung erschiene uns sinnlos. Die von Picasso gefundene Kombination aber macht aus den alltäglichen Dingen ein Bild, mit dem wir eine völlig neue Bedeutung verbinden. Picasso ließ seinen „Stierkopf“ später als Bronzeplastik gießen. So wurde aus einer Montage gefundener Fertigteile ein „Kunstwerk“ in klassischer Technik. Das Werk war „kostbarer“ geworden und entsprach damit eher einer konservativen Vorstellung von Kunst. Das Objekt wurde nun anders betrachtet. Die Bildzeichen selbst und die mit ihm assoziierte Bedeutung änderten sich dadurch aber nicht. Gefundene Dinge Wer schon einmal einen Schneemann gebaut hat, kennt das Prinzip: Zwei Kohlestücke und eine Karotte machen eine Kugel aus Schnee zum Gesicht. Auch in der bildenden Kunst werden Techniken genutzt, die mit einfachen Materialien und relativ geringem technischen Aufwand eine starke visuelle Wirkung erzeugen. Bildzeichen aus gefundenen Dingen (frz. Objet trouvé) spielen in der Kunst seit der Moderne eine wichtige Rolle. Aber auch in unserem Alltag kommen sie vor. 1 Pablo Picasso: Stierkopf, 1942 Der zweite Blick Auch der von Katharina Brandl (geb. 1971) geschaffene Stierkopf (Abb. 2) ist ein klar verständliches Bildzeichen. Der Umriss des Tierschädels, die Hörner, sogar die Grundform der Augen: alles scheint eindeutig. Wer Picassos Stierkopf (Abb. 1) kennt, sieht eine Variante dieses berühmten Vorbilds. Bei genauer Betrachtung, „auf den zweiten Blick“, wirst du aber bemerken, dass dieses Objekt noch weitere Bildinformationen zu bieten hat: eine zweite Bedeutungsebene. Der „Stierkopf“ setzt sich aus einem Paar High Heels und einem Kleiderbügel zusammen. Diese Gegenstände werden gewöhnlich mit „typisch weiblich“ assoziiert . Sie sind Attribute eines ganz bestimmten „Frauenbildes“. Die gleich- zeitige Nähe zu Picassos Stierkopf schafft einen irritierenden Kontrast, der uns vielleicht nachdenken lässt: über bestimmte Aspekte des „Frauenbildes“ in unseren Köpfen und über Medienbilder und Alltagserfahrungen, die es erzeugen. 2 Katharina Brandl: Trouvé, Kleiderbügel und Damenschuhe, ca. 30 × 30 cm, 2012 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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