Zeichen 3, Schulbuch

29 Gefasst und ruhig  Piero della Francesca (um 1420–1492) zeigt Maria als junge Frau, die dem fremden Wesen ernst und gefasst entgegentritt. Mit ihrer aufrechten Haltung, dem reichen Faltenwurf ihres Gewandes und durch die sparsame Geste ihrer Hand wirkt sie wie eine Königin. Mit gesenktem Blick wendet sie sich dem eintretenden Engel zu. Er ist kleiner als sie und unterstreicht dadurch ihre hoheitsvolle Erscheinung. Auch das palastartige Gebäude mit eleganten Säulen und Gesimsen gibt der Szene einen vornehmen Charakter. Gott im Himmel schickt mit bei- den Händen seine Gnade – dargestellt durch feine, goldene Striche – zu Maria hinunter. Die Schräglinien des Gebälks setzen die Richtung dieser Striche fort und führen sie weiter bis zu Marias Kopf. So wird eine direkte Verbindung hergestellt. Die hellen Farben und der klare Bildaufbau mit betonten senkrechten und waagrechten Linien vermitteln den Eindruck einer fest gefügten Ordnung. 2  Tintoretto: Verkündigung, um 1577 Dynamisch  Völlig anders stellt Tintoretto (1518–1594) seine „Verkündi- gung“ dar: Wie ein Sturmwind braust der Engel mit seiner Begleiterschar in Marias Kammer hinein. Er hat die Grenze zu ihrem Privatbereich schon durchbrochen. Mit der Hand weist er auf den Heiligen Geist, der sich in Gestalt einer Taube über ihr befindet. Durch ihre Position in der unteren Bildecke wirkt Maria von dieser geball- ten himmlischen Macht überwältigt. Da der Engel über ihr ist, muss sie zu ihm aufschauen. Auch der Betrachterstandpunkt ist viel höher angesetzt als bei Piero della Francesca: Während man dort von unten zu Maria hin- aufblickt, schaut man hier auf sie herunter. Durch die heftigen Hell-Dun- kel-Kontraste erhält die Szene eine dramatische, fast gespenstische Stim- mung. In der linken Bildhälfte ist im Hintergrund Marias Verlobter Josef zu sehen. Er ist mit einer Zimmermannsarbeit beschäftigt. Der richtigen Moment  Im Text des Lukas- Evangeliums (Lk 1, 26–38) ist eine Abfolge von Reaktionen Marias beschrieben: Erschrecken, Nachdenken, vertrauensvolle Zustimmung. Künstler dieser Zeit hatten einen verhältnismäßig großen Spielraum bei der Wahl jenes Moments, der ihrer Gestaltungsabsicht am besten entsprach: Manche betonten das Erschrecken Marias, andere ihr ängstliches Zurückweichen, wieder andere ihre mutige und gefasste Bewältigung einer beängstigenden Situation. 3  Tintoretto: Verkündigung, Ausschnitt v.Chr. 0 500 1000 1500 heute ca. 1460 Piero della Francesca: Verk ndigung, San Francesco, Arezzo Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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