Zeichen 3, Schulbuch

30 Ausdrucksmittel Zeitgeist  Der Vergleich zeigt, wie verschiedenartig dasselbe Thema dar- gestellt werden kann. Die Gründe dafür liegen allerdings nicht nur in den unterschiedlichen Persönlichkeiten der beiden Künstler, sondern auch in den veränderten Zeitumständen: Als Piero della Francesca um etwa 1460 sein Verkündigungs fresko an eine Kirchenwand in der toskanischen Stadt Arezzo malte, waren er und seine Künstlerfreunde gerade von der Wie- derentdeckung der Antike begeistert. Diese Aufbruchsstimmung der beginnenden Renaissance ist in der lichten Klarheit seiner Darstellung deutlich spürbar. Hundert Jahre später war dieses Streben nach dem ruhigen Gleichge- wicht schon wieder vorüber. Für den Venezianer Tintoretto war es viel wichtiger, sein Gemälde mit dramatischer Spannung zu erfüllen, um dadurch die Betrachterin bzw. den Betrachter zu erschüttern. ImVergleich zwischen den beiden Bildern werden also nicht nur verschiedene Gestal- tungsweisen, sondern auch verschiedene Kunstauffassungen sichtbar. 5  Piero della Francesca: Verkündigung, um 1460, Ausschnitte Die Entstehungszeiten der zwei folgenden Bilder (Abb. 6 und 7) liegen nicht so weit auseinander wie die unserer beiden ersten Vergleichsbei- spiele (Abb. 1 und 2). Die Gestaltungsunterschiede sind dennoch sehr groß. Die zwei Bilder (Abb. 6 und 7) wurden in unterschiedlichen geogra- fischen Regionen gemalt. Auch das hat Einfluss auf die Bildgestaltung und auf die Ausdrucksmittel, die einer Künstlerin oder einem Künstler zur Verfügung stehen. Fra Angelico arbeitete in Florenz, genau dort, wo zu dieser Zeit eine neue Bildsprache entwickelt wurde. Der Maler, den wir heute Matthias Grünewald nennen, lebte im Süden Deutschlands. Es dau- erte einige Zeit, bis die neuesten Trends auch dorthin gelangten. Im Vergleich der Bilder Piero della Francescas und Tintorettos (Abb. 1 und 2) konntest du feststellen, wie viel man allein schon durch genaues Schauen über ein Bild erfahren kann. Teste deine Beobachtungsfähigkeit nun an zwei weiteren Bildern zum gleichen Thema (Abb. 6 und 7). Beschreibe deine gefühlsmäßigen Eindrücke und versuche danach, die Ursachen dafür zu benennen. 4  Tintoretto: Verkündigung, um 1577, Ausschnitte aus Abb. 2 Theatralisch  In vielen Bildern Tintorettos wirken die Haltung und die Gesten der handelnden Personen etwas übertrieben. Wir könnten sie als pathetisch oder thea­ tralisch bezeichnen. Das ist kein Zufall. Wenn die Körpersprache eines Menschen als Ausdrucksmittel verwendet wird, dann liegt es eigentlich nahe, sich an der Ausdrucksweise von Schauspielern, an der Bildsprache des Theaters zu orien­ tieren. Im Falle Tintorettos kommt noch dazu, dass er in einer Zeit und in einer Stadt lebte, in der das, was wir heute als Theater verstehen, gerade entwickelt wurde. 1517 und 1520 gab es in Venedig die ersten öffentlichen Aufführungen von „Komödien“, Vorläuferinnen der „Commedia dell’arte“. So wie die Malerei war auch das Theater ein Medienereignis, das nicht nur zur Unterhaltung, sondern auch zur Beleh­ rung und zur „Bekehrung“ eingesetzt wurde. Theater war auch ein Instrument der Gegenreformation, die seit dem Konzil von Trient (1545–1563) den mit der Reformation Martin Luthers geschwäch­ ten Einfluss der katholischen Kirche in Europa wieder festigen sollte. Lichtregie  Nicht nur Bewegung, Haltung und Gestik der Figuren in Tintorettos Bildern lassen an das Medium Theater denken. Auch seine Räume haben oft bühnenartige Wirkung. Seine Licht­ führung, die mit Schlaglichtern, Halb­ dunkel und Schatten arbeitet, fügt sich gleichfalls in diesen Zusammenhang. Fremde Wesen Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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