Zeichen 3, Schulbuch
68 Der schiefe Turm Platz der Wunder Vor fast tausend Jahren wurde in der italienischen Stadt Pisa der Grundstein für den „Platz der Wunder“ gelegt. Zur Zeit ihrer Errichtung galten die dort versammelten Bauwerke tatsächlich als Weltwunder. Heute wird das gesamte Ensemble von der UNESCO im Verzeichnis des für die gesamte Welt wichtigen Kulturerbes gelistet. Jedes Jahr besuchen zahllose Touristinnen und Touristen diesen besonderen Ort. Wie kam es eigentlich zur Verwirklichung derart gigantischer Bauvorhaben? Welchen Zweck hatten die Gebäude und wer finanzierte alle diese Projekte? 1 Pisa: Piazza dei Miracoli, Luftaufnahme Platz der Wunder Vor einem Jahrtausend war Pisa eine der größten Städte Europas und ein wichtiges internationales Handelszentrum. Eine eigene Kriegsflotte sorgte für die Eroberung und die militärische Siche- rung zahlreicher Stützpunkte an den Küsten und auf Inseln des gesamten Mittelmeerraumes. Pisa betrieb die Politik einer Großmacht. Im Jahr 1063 überfielen pisani- sche Kriegsschiffe die damals sarazenische Stadt Palermo auf Sizilien. Eine Inschrift an der Fassade des Domes von Pisa gibt bis heute einen Hinweis auf dieses Ereignis: „Sechs große, mit Schätzen beladene Schiffe brachten wir aus Palermo, um diesen Bau zu errichten.“ Ein Teil der Beute aus diesem Raubzug wurde tatsächlich für den Bau eines neuen Doms verwendet. Er sollte an Pracht und Größe alle anderen Kirchen Italiens übertreffen. Später kamen noch andere Bauten dazu, darunter der „schiefe Turm“, der zu Pisas Wahrzeichen wurde. Dass die Bürger einer Stadt die Mühen und Kosten derart aufwendiger Bauvorhaben auf sich nahmen, hatte verschiedene Gründe. Natürlich benötigte man große Räume für religöse Feiern. Auch die Versammlun- gen der Stadträte wurden meist in den Kirchen abgehalten. Rathäuser waren zu dieser Zeit noch nicht üblich. Ein hoher Turm bewirkte, dass das Glockengeläute weit zu hören war. Die Glocken erinnerten nicht nur an die Gebetszeiten, sie regelten für die meisten Menschen, die ja keine Uhren besaßen, den Tagesablauf. Auch Gefahren wie Feuer oder feindli- che Angriffe wurden von den Glocken gemeldet. Dass man aber Türme höher und Dome größer und prächtiger bauen wollte als vergleichbare Camposanto Am Rande des Platzes, direkt an der Stadtmauer, liegt der Friedhof. Der italienische Name Camposanto bedeutet „heiliges Feld“. Angeblich ließen die Pisaner mehrere Schiffsladungen Erde aus Jerusalem bringen und auf diesem Gelände anschütten. Der Friedhof hat zwei Teile. Der eine, der christliche Teil, ist von einem rechteckigen Gebäude mit großem Innenhof und einem prachtvoll gestal teten Kreuzgang umgeben. Der andere liegt frei und wegen eines Knicks in der Stadtmauer sogar außerhalb des geschützten Siedlungsbereichs: der jüdische Teil. Die Pisaner wollten ihren jüdischen Mitbürgerinnen und Mit bürgern zwar Anteil an der Erde aus Jerusalem zugestehen, ihre Gräber aber dennoch nicht innerhalb der Stadt grenzen dulden. Eine solch intolerante und ungerechte Haltung war aber nicht auf Pisa beschränkt. Auch in anderen Städten Europas wurden Andersgläubige nicht als Gleichberechtigte behandelt. Sie mussten in eigenen Stadtvierteln leben, durften die meisten Berufe nicht aus üben und wurden immer wieder verfolgt, beraubt, vertrieben oder sogar ermordet. 2 Pisa: Dom. Vierungs kuppel, Lang- und Querhaus enden mit Apsiden Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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