Zeichen 4, Schulbuch
37 Suspense Der berühmte Regisseur Alfred Hitchcock (1899–1980) drehte den Filmklassiker „Notorious“ (deutscher Titel: „Berüchtigt“) im Jahr 1946: Die Handlung ist eine Verbindung von Kriminal- und Liebesgeschichte: Der FBI-Agent Devlin (gespielt von Cary Grant) überredet Alicia (Ingrid Bergman), ihm bei der Entlarvung einer Verbrecherorganisation zu hel- fen. Alicia soll sich an Mr. Sebastian (Claude Rains), ein Mitglied dieser Gruppe, heranmachen und herausfinden, was in seinem Haus vorgeht. Sebastian verliebt sich in Alicia und heiratet sie sogar. Bald merkt sie, dass im Keller des Hauses irgendetwas Geheimnisvolles versteckt ist. Sie arrangiert eine Party und lädt Devlin dazu ein, damit sie gemeinsam den Keller untersuchen können. Zu diesem Zweck muss sie sich aber vorher den von ihrem Ehemann gut gehüteten Kellerschlüssel besorgen. An die- sem Punkt setzt die geschilderte Szene ein: Während sich Sebastian im Bad umzieht, pirscht sich Alicia vorsichtig an den abgelegten Schlüssel- bund heran. Ihr ist bewusst, dass eine Entdeckung den sicheren Tod bedeuten würde. Wie gelingt es Hitchcock, dem Publikum die extreme Spannung (engl. „suspense“) dieser Situation zu vermitteln? Das wichtigste Mittel ist die Identifikation mit Alicia: Durch Großaufnahmen ihres Gesichts (Einstel- lungen 1 und 3) sind wir ihr im wahrsten Sinn des Wortes sehr „nahe“, sehen die Angst in ihren Augen, fühlen mit ihr mit. Die Einstellungen 2 und 4 steigern diese Identifikation, indem uns die Kamera die Dinge aus dem Blickwinkel Alicias zeigt. Wir sehen den Schatten an der Tür und den Schlüsselbund auf dem Tisch gleichsam mit Alicias Augen. Zwischen- durch sind aber immer wieder „Außenansichten“ eingefügt, die uns die räumliche Orientierung ermöglichen. Das Wesen der Filmsprache besteht also darin, dass die Kamera uns das Geschehen aus verschiedenen Blickwinkeln und in verschiedenen Aus- schnitten zeigt, um uns genau jene Informationen zu liefern, die wir zum Verständnis der äußeren und inneren Vorgänge benötigen. Montage Wie ist es möglich, dass man im Kino oder vor dem Fernsehgerät die Zerstückelung in einzelne Einstellungen als zusammenhängenden Ablauf wahrnimmt? Das Geheimnis liegt in der Art des Übergangs von einer Einstellung zur nächsten: Wenn du dir die Bilder der Hitchcock-Szene genau anschaust, wirst du bemerken, dass Alicias Blick am Ende der ersten Einstellung auf irgendein Objekt links hinter der Kamera gerichtet ist. Man weiß noch nicht, was es ist, aber die zweite Einstellung gibt die Antwort: die Tür mit dem Schatten. Die dritte Einstellung setzt genau dort fort, wo die erste geendet hat, sodass man aus diesen drei Informationen „Blick – Tür – Blick“ den Schluss zieht: Alicia schaut zur Tür. Diese Schlussfolgerung läuft automatisch ab, weil wir uns an diese „Filmgrammatik“ gewöhnt haben. Es gibt viele solcher Regeln. Es wäre ein Verstoß gegen diese Regeln, wenn Alicias Blick schon am Anfang der dritten Einstellung nach unten gerichtet wäre. In diesem Fall würde der Anschluss nicht stimmen und die Verständlichkeit wäre erschwert. Schnitt Es ist die Aufgabe einer Cutterin oder eines Cutters, die Einstellungen des Rohmaterials so zu kürzen und zusammenzufügen, dass man den Eindruck eines fortlaufenden Geschehens gewinnt. Man bezeichnet diese Arbeit als Schnitt oder Montage . Dialoge, Geräusche und eine auf die Handlung abgestimmte Musik helfen mit, die künstlich zusammengesetzten Einzelteile als Ganzheit zu erleben. 2 Alfred Hitchcock und Ingrid Bergmann werfen einen Blick in das Drehbuch, 1946 Wie wichtig die Zerteilung einer Szene in einzelne Einstellungen ist, kannst du an folgendem Beispiel erkennen: Stell dir vor, die geschilderte Szene wäre nicht in fünf Einstellungen , sondern nur in einer einzigen starren Totale gedreht worden: In diesem Ausschnitt wäre zwar alles Wesentliche enthalten, aber man würde weder den kleinen Schlüsselbund auf dem Tisch bemerken, noch den Schatten an der Tür, noch die Angst in Alicias Augen. Wenn du also eine Handlung filmisch darstellen willst, musst du dir überlegen, welche Wirkung du beim Publikum auslösen möchtest: Sollen die Zuseherinnen und Zuseher das Geschehen distanziert betrachten? Dann genügt eine starre Einstellung , die den Handlungsablauf aus einiger Entfernung ( total oder halbtotal ) zeigt. – Oder willst du das Publikum „packen“? Dann musst du durch wechselnde Kamerastandpunkte, Einstellungs größen und Kamerabewegungen die Aufmerksamkeit auf die jeweils wichtigen Details lenken, sodass das Publikum in das Geschehen hineingezogen wird. Onlineergänzung xxxxxx v.Chr. 0 500 1000 1500 heute Alfred Hitchcock (1899–1980) Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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