Zeichen 4, Schulbuch

39 Charakteristisch für dieses Stilmittel ist eine Szene, die einige Minuten spä- ter zu sehen ist: Während der großen Party wollen Alicia und Devlin den geheimnisvollen Keller untersuchen. Die Zeit dafür ist allerdings sehr knapp, denn wenn neuer Champagner aus dem Keller geholt werden muss, wird Sebastian das Fehlen des Schlüssels bemerken. Mit jeder leeren Fla- sche wächst somit die Lebensgefahr. Durch diese Konstruktion schafft es Hitchcock, eine an sich harmlose Tätigkeit wie das Champagnertrinken zu einem dramatischen Vorgang umzufunktionieren. Das allmähliche Schwin- den des Flaschenvorrats wird so zu einem immer bedrohlicher wirkenden Signal, ein Tablett mit gefüllten Gläsern wird zum Horrorbild. Etwas später untersucht Devlin die Flaschenregale im Keller. Er blättert in einem Verzeichnis und merkt nicht, wie er dabei eine Flasche zur Regal- kante schiebt. Man möchte ihm zurufen: „Halt! Pass auf!“ – Aber da fällt die Flasche schon herunter und zerbricht auf dem Steinboden. Zur größ- ten Überraschung war sie aber nicht mit Alkohol gefüllt, sondern mit einem merkwürdigen Sand. Ist es vielleicht Uran? Devlin ist erfreut, das Geheimnis so schnell entdeckt zu haben. Das, was man Sekunden zuvor noch als ärgstes Unglück gehalten hat, stellt sich nun als Glücksfall he- raus. Auch das ist ein für Hitchcock typischer Erzähltrick: Er spielt mit den Erwartungen des Publikums. Zuerst fördert er Vermutungen in eine bestimmte Richtung, gibt aber dann, wenn das Publikum sich sicher fühlt, der Geschichte eine überraschende Wendung. Im Grunde sind das uralte dramatische Techniken, die man in vielen Theaterstücken und Erzählun- gen der Weltliteratur finden kann. Vieldeutigkeit  Bei all diesen Beispielen wird deutlich, dass Hitchcock kein Freund einfacher Schwarz-Weiß-Malerei ist. Er liebt das Spiel mit Widersprüchen, mit Mehrdeutigkeiten, mit Schwebezuständen. Als Alicia und Devlin beim Verlassen des Kellers von Sebastian entdeckt werden, flüstert Devlin zu Alicia: „Du musst mich küssen!“ Für ihn ist es ein taktisch notwendiger Kuss, um Sebastian vom Keller abzulenken. Doch Alicia ver- gisst beim Küssen dieses Motiv, in ihr flammt die verdrängte Liebe zu Devlin auf. Sehnsüchtig seufzt sie „Oh, Dev!“ Ob Devlin auch etwas emp- findet, bleibt einige Sekunden unklar. Aber dann sagt er „Stoß mich weg!“ – Hat er also während des Kusses immer nur an seine Taktik gedacht? Liebt er Alicia oder benutzt er sie nur für seine Spionageaufgaben? – Hitch- cock lässt uns lange in Ungewissheit, weil das mehr Spannung erzeugt als simple Eindeutigkeit. Und wie geht die Geschichte weiter? Das soll hier nicht verraten werden. Vielleicht hast du einmal die Möglichkeit, diesen Film zu sehen. Schalte dann alle Lampen aus und stell dir vor, du wärst in einem dunklen Kinosaal. Denn dort gehört dieser Film hin. Als Einübung in die Filmsprache könntest du eine kurze, spannende Szene zum Thema „Schummeln bei einer Schularbeit“ erfinden und drehbuchartig aufschreiben. Versuche das Geschehen hauptsächlich durch Blicke und Bewegungen zu beschreiben, sodass du auf Dialoge leicht verzichten kannst. Die Klasse könnte nach der Präsentation der einzelnen Ergebnisse ein Drehbuch für eine Verfilmung auswählen. Eine andere gute Vorbereitung für die eigene Filmarbeit ist die Analyse einer spannungsreichen Spielfilmszene. Wodurch entsteht die Spannung? Untersuche zuerst die Gesamtsituation und gehe dann (mithilfe von Wiederholungen, mit Zeitlupe und Standbild) immer mehr ins Detail. 6  Standbild aus „Notorious“ 7  Standbilder aus „Notorious“ v.Chr. 0 500 1000 1500 heute einige Hitchcock-Klassiker: 1946 Notorious, 1958 Vertigo, 1960 Psycho, 1963 Die Vögel Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

RkJQdWJsaXNoZXIy ODE3MDE=