Zeichen 4, Schulbuch
Ein Bild wie die Wirklichkeit 54 Cittá ideale Das Bild (Abb. 1) hängt im Palazzo Ducale von Urbino, der heutigen Nationalgalerie der italienischen Region Marken. Wir wissen nicht genau, wer die „Cittá ideale“ gemalt hat. Vieles spricht für den Archi- tekten, Bildhauer und Maler Francesco di Giorgio Martini (1439–1501). Auch Piero della Francesca (1420–1492) und andere Künstler wurden als mögliche Erfinder und Maler dieses Bildes genannt. Sie alle lebten und arbeiteten zur Entstehungszeit des Gemäldes am Hof von Urbino. Wer immer das Bild gestaltet hat, kannte eine Methode räumlicher Darstel- lung, die gut ein halbes Jahrhundert zuvor in Florenz entwickelt worden war: die Zentralperspektive . Die Demonstration Im Jahre 1413 kündigte Filippo Brunelleschi (1377– 1446) – Goldschmied, Bildhauer, Maler und Architekt – ein Experiment an. Es sollte imDom von Florenz stattfinden, nahe demHaupteingang. Dort wo der Riesenbau, an dem bereits über hundert Jahre gearbeitet wurde, schon fertiggestellt war. Eigentlich war es mehr eine Demonstration. Filippo wollte zeigen, was er nach langen Versuchen und Berechnungen entdeckt hatte. Im Inneren des Domes, knapp zwei Meter vor den geöffneten Toren, stand auf einem Gestell eine hölzerne Tafel. Filippo forderte die Anwesenden auf, durch ein Loch, das er in die Holzplatte gebohrt hatte, hinaus ins Freie zu blicken. Wer das tat, sah das gewohnte Bild. In der Mitte, wenige Schritte vor der Domfassade, stand das Baptisterium, eines der Wahrzei- chen der Stadt. Links und rechts davon konnte man den Platz und die Fassaden der Häuser erkennen. Alles wie erwartet. Aber dann kam die Überraschung. Filippo hielt einen Spiegel vor die Holztafel – vor die Außenseite, etwa eine Armlänge vom Guckloch entfernt. Und die Besu- cherinnen und Besucher, die hinter der Tafel standen und der Reihe nach durch das Loch blickten, sahen das gleiche Bild wie zuvor. Noch immer Medienwirksam Die erste öffentliche Vorführung eines zentralperspektivisch gemalten Bildes war ein medienwirk- sames Ereignis. Um die täuschende Ähnlichkeit zwischen dem wirklichen Motiv und dem gemalten Abbild möglichst effektvoll zu demonstrieren, stellte Brunelleschi sein Werk auf einem Gestell genau an dem Punkt auf, von dem aus er es gemalt hatte, und zwar mit der Rückseite zum Publikum. Durch ein Bohrloch exakt in Höhe des Aug- punktes konnten Betrachterinnen und Betrachter auf die Szenerie vor den Toren des Domes blicken. Bruelleschis offenbar seitenverkehrt gemaltes Bild sahen sie zunächst nicht. Erst ein Spiegel, der in einem genau berechneten Abstand ( Augdistanz ) vor das Guckloch geschoben wurde, machte die Malerei sichtbar. 2 Florenz, Piazza San Giovanni mit Baptisterium Die Entdeckung der Perspektive und ihre Folgen Gegen Ende des Mittelalters begann man in den großen und reichen Städten Italiens damit, Bilder auf eine völlig neue Art zu machen. Bilder dienten seit dieser Zeit nicht mehr ausschließlich religiösen Zwecken, sondern auch den Interessen einer neuen bürgerlichen Oberschicht. Das Diesseits, die Welt und die Wirklichkeit wurden zum Thema. Eine neue Bildsprache musste entwickelt werden, die diesen neuen Aufgaben ent- sprach. In der Toskana, in den Städten Siena und Florenz, wurden die Grundlagendafür gelegt.Aber auchkleinereOrte,wiedieHerzogsresidenz Urbino in den Marken, spielten dabei eine wichtige Rolle. 1 Die ideale Stadt (Cittá ideale), Öl auf Holz, 66,4 × 238,5 cm, um 1470 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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