Zeichen 4, Schulbuch

55 gab es das Baptisterium, die Hausfassaden und darüber den Himmel und die vorbeiziehenden Wolken. Die Zentralperspektive  Brunelleschi hatte den Ausblick durch die Tore des Doms auf die Piazza San Giovanni und das Baptisterium perspektivisch auf eine Holzplatte gemalt. Er hätte dieses Bild an jedem beliebigen Ort zeigen können und die Betrachtenden hätten es so erlebt, wie er selbst es gese- hen hatte – von einem bestimmten Punkt im Inneren des Domes aus. Der Trick mit dem Guckloch und dem Spiegel hatte nur den Zweck, das Publi- kum zu überraschen. Der Wechsel zwischen dem Blick auf die reale Szene und dem unmittelbar anschließenden Blick auf die gemalte Szene im Spiegelbild erreichte den gewünschten Effekt. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Vorführung waren verblüfft. Auch nachdem Filippo ihnen seine Vorrichtung erklärt hatte, verstanden viele nicht, wie diese Täu- schung funktionierte. Filippo hatte die Aufmerksamkeit, die er wollte. Seine Erfindung war Stadtgespräch. Was Brunelleschi entdeckt und berechnet hatte, waren die Regeln, nach denen unser räumliches Sehen funktioniert. Er hatte außerdem einen Weg gefunden, diese Regeln in Form einer geometrischen Konstruktion auf die Gestaltung eines Bildes zu übertragen. Es ist nicht ganz sicher, ob Brunelleschi wirklich allein und als Erster diese Methode entwickelt hat. Aber er hat sie als Erster der Öffentlichkeit vorgestellt, sie gewissermaßen als Erster medienwirksam publiziert. Und in kürzester Zeit veränderte diese Entdeckung die Art und Weise, in der Bilder gemacht wurden. Nicht nur in Florenz und im brigen Italien, sondern in ganz Europa. Die neuen Bilder  Wenn du die Technik der Perspektive schon kennst, dann ist Brunelleschis Methode für dich ganz logisch und leicht verständlich. Außerdem hast du im Lauf deines Lebens bereits Tausende perspektivi- scher Bilder gesehen – als Malereien, Fotos oder Filmsequenzen. Aber die meisten Menschen, die 1413 an Brunelleschis Demonstration im Dom von Florenz teilnahmen, hatten in ihrem Leben vergleichsweise nur wenige Bil- der zu Gesicht bekommen. Für sie grenzte die naturgetreue Bildwirkung, die durch das neue Verfahren erreicht wurde, an ein Wunder. 3  Baptisterium, Florenz. Rekonstruktion der Zeich-nung Brunelleschis für das Experiment von 1413 Grundbegriffe der Perspektive  Um Brunelleschis Experiment zu verstehen, musst du jedenfalls wissen, dass jedes perspektivische Bild genau festlegt, von welchem Punkt aus die Malerin oder der Maler und später die Betrachterinnen und Betrachter eine gemalte Szenerie sehen – gleichgültig, ob sie nach der Wirklichkeit gestaltet ist oder reine Erfindung. Dieser Punkt ist durch den Abstand des Auges vom Boden ( Aughöhe ) und den Abstand des Auges vom Bild ( Augdistanz ) definiert. Ohne diese Festlegung funktioniert die Methode nicht. Jede Veränderung des Augpunktes würde auch eine Veränderung der Abbildung bewirken. Wenn wir vor dem fertigen Bild stehen, spielt unser wirklicher Standort keine Rolle mehr. Wir erleben das Bild immer so, als ob wir es von dem von der Malerin oder dem Maler festgelegten Punkt aus betrachten würden. Das klingt vielleicht ein wenig kompliziert, aber die Beispiele und Erklärungen dieses Kapitels werden wahrscheinlich die meisten der noch offenen Fragen beantworten. 4  Rekonstruktion der Vorrichtung, wie sie Brunelleschi 1413 für sein Experiment wahrscheinlich verwendete 5  Schematische Darstellung der Perspektive-Demonstration Brunelleschis v.Chr. 0 500 1000 1500 heute 1413, Filippo Brunelleschi: Demonstration der Zentralperspektive Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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