sprachreif 1, Schulbuch

104 Eine Zusammenfassung schreiben Schritt 1: Planen Erstaunlicherweise erreichte das Mittelalter eine reibungslose An- passung der Jugend ans Bestehende; statt über Zucht und Zwang mittels einer so natürlichen wie nachlässigen Integration. Man nahm die Jugend nicht an die Hand, sondern erwartete, dass sie sich selbst zurechtfinde. Erst mit der Neuzeit, in der auch der alte Erziehungs- gedanke eine Renaissance erfuhr, verschwand dieses Modell. Ariès [ Historiker, Anm. ] zufolge setzte eine stetige Moralisierung der Ge- sellschaft ein, in deren Zuge auch die Unreife des Kinds erkannt wur- de. Die Familie – bis dahin eine reine Institution zur Weitergabe von Namen und Habe – mutierte zur moralischen Anstalt: Sie bildete sich, als Kern- und Kleinfamilie, um das Kind, um dessen körperli- che und geistige Bildung. Wo die Familie ihrer Aufgabe nicht nach- kommen konnte, entstanden Schulen: die staatliche Institution als ein Substitut der Familie. Was sich wie Fortschritt anhört, schildert Ariès als Katastrophe: Das vormals freie Kind wird aus der reichen Erwachsenenwelt herausge- rissen und verbannt in nüchterne Lernghettos; das wiederum be- schert ihm die Zuchtrute und den Karzer, Disziplinierungsmaßnah- men, die man zuvor in den Gefängnissen eingeübt hatte. Das Ergebnis aber hat eine erstaunliche Ähnlichkeit mit der Situation im alten Athen. Jugend wird erneut als Entwicklung begriffen, die der lenkenden Hand des Erwachsenen bedarf. Zugleich steht dem Ju- gendlichen ein neues Maß an Selbstbestimmung offen, allein schon, weil er nicht mehr in der Gemeinschaft gebunden ist. Hinzu kommt der Einfluss der Reformation, die mit ihrer Betonung der Autonomie des Gläubigen ebenfalls das Prinzip der Individualität befördert. Rousseau, der erste große Chefideologe der Jugend, gibt dem Auto- nomiegedanken den letzten Schliff: Der Jugendliche, sagt er, weise sich in einer zweiten Geburt seinen Platz in der Geschichte selber zu. Das scheint die Wurzel zu sein, der seither die Auflehnung der Ju- gend entwächst, gleich, ob zur Zeit der Französischen Revolution, des Jungen Deutschlands, der Pariser Kommune oder des Mai 1968. […] Das Gemeinsame all dieser Jugendbewegungen ist, wie der Psycho- loge Helmut Fend feststellt, die Kritik am westlichen Rationalismus. Sie alle wenden sich gegen die von kapitalistischer Wirtschaft, Wis- senschaft, Verwaltung und Technik diktierte genussfeindliche Gleichschaltung. Sie alle schreien ihr Nein gegen die Zweckrationa- lität – und ihr Ja zu den Begriffen des Spiels, der Entgrenzung und der Ungebundenheit. Allein die Jugend von heute passt nicht in dieses Schema – haupt- sächlich, weil sich ihr kein sichtbarer Feind mehr bietet. Der Kapita- lismus hat sich von der Genussfeindlichkeit verabschiedet – und ist selbst zu einem Jugendlichen geworden: Das Symbol der Marktwirt- schaft ist nicht mehr der in protestantischer Enthaltsamkeit erstarrte Patriarch, sondern der 30-jährige Wall-Street-Trader, der sich mit Aktien und Optionsscheinen eine Sportwagensammlung, ein Pent­ 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 66 68 70 72 74 76 78 80 82 84 86 Schriftliche Kompetenz 4  Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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