sprachreif 1, Schulbuch

118 Interview Ich unterstütze die Opposition nicht Von Tessa Szyszkowitz und Georg Hoffmann-Ostenhof | 11.02.2012 profil: Die Rebellion gegen das Regime hat doch einiges in Bewegung gebracht. Adonis: Für mich war diese Rebellion der Ju- gend in der ganzen arabischen Welt außerge- wöhnlich. Wie sie alles organisiert und sich ar- tikuliert hat, beeindruckte mich überaus. Es ist die arabische Jugend, die diesen Frühling mög- lich gemacht hat, und es ist das erste Mal, dass die Araber den Westen nicht imitieren. Aber unglücklicherweise bestimmt die Jugend nicht die Realität, wie sich auch in Ägypten und Tu- nesien zeigt. Es sind die Fundamentalisten, die Religiösen, die mit Unterstützung aus dem Aus- land die Situation von heute beherrschen. […] profil: Ihre Bilanz, die Sie ein Jahr nach Aus- bruch des arabischen Frühlings ziehen, ist also nicht sehr positiv. Adonis: Möglichkeiten sind vorhanden, gewiss. Aber praktisch kann man keine positive Bilanz ziehen. Nehmen Sie Tunesien. Das Land ist heu- te hinter Habib Bourguiba (erster tunesischer Präsident, von 1957 bis 1987, Anm.) zurückge- fallen. Das Bourguiba-Regime war laizistisch. Und jetzt wird das Land islamisch regiert. profil: Zeichnet sich hier nicht eine wider- sprüchliche Entwicklung ab? Auf der einen Seite gewinnt die Religion in den arabischen Gesell- schaften seit zwei, drei Jahrzehnten immer mehr an Einfluss. Andererseits war die arabische Re- volution des vergangenen Jahrs in ihrem Anfang klar säkular, ohne Bezugnahme auf den Islam. Adonis: Die Jugend ist eine Stimme, eine Wut, ein Wille. Aber sie ist gespalten, hat keine Ideo- logie und ist schwach. Sie kennen ja die Linke im Westen: Sie ist auch immer gespalten. Ernsthaft organisiert sind in den arabischen Ländern nur die Fundamentalisten. profil: Aber bitte! Die Menschen, die heute in Homs und Hama auf der Straße demonstrieren und massakriert werden, sind doch keine Isla- misten. Adonis: Woher wissen Sie das? profil: Alle Korrespondenten berichten das. Al Jazeera auch. Adonis: Und das glauben Sie? Die überwältigen- de Mehrheit der Oppositionellen sind Funda- mentalisten. Ich bin radikal gegen das Regime, aber ich unterstütze auch nicht die Opposition. Denn ich will mich nicht an einem Übergang von einer Militärdiktatur zu einer religiösen Diktatur beteiligen. profil: Aber ist das wirklich ein realistisches Szenario? Ist es etwa in Ägypten vorstellbar, dass sich eine Theokratie nach dem Vorbild des Kho- meinismus oder eine Art Kalifat etabliert? Adonis: Ein Kalifat wäre gar nicht nötig. Die re- ligiöse Tendenz genügt. Das ist jedenfalls eine historische Regression. Damit will ich nichts zu tun haben. Die Revolution in der arabischen Welt – die auf allen Ebenen dem Mittelalter nä- her ist als der modernen Zeit – hat keine Chan- ce, wenn sie nicht laizistisch ist. Wenn wir nicht Religion und Staat trennen, wenn wir nicht den Frauen volle Gleichberechtigung geben und uns nicht von den Scharia-Gesetzen befreien, wer- den wir nur eine Despotie durch eine andere er- setzen. Die Militärdiktatur kontrolliert das Den- ken. Aber die religiöse Diktatur kontrolliert das Denken und auch den Körper, die Sprache und den Alltag. Das ist die totale Diktatur. QUELLE: http ://www.profil.at/articles/1206/560/318878/syrien-ich-opposition; (abgerufen am 12.11.2013) 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 66 68 70 Schriftliche Kompetenz 4  Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

RkJQdWJsaXNoZXIy ODE3MDE=