sprachreif 1, Schulbuch
129 von schöner Gestalt, mittlerer Größe, die ein simples weißes Kleid, mit blass roten Schleifen an Arm und Brust, anhatte. Sie hielt ein schwar- zes Brot und schnitt ihren Kleinen rings herum jedem sein Stück nach Proportion ihres Alters und Appetits ab, gab’s jedemmit solcher Freund- lichkeit, und jedes rief so ungekünstelt sein „Danke!“, indem es mit den kleinen Händchen lange in die Höhe gereicht hatte, ehe es noch ab- geschnitten war, und nun mit seinem Abendbro- te vergnügt entweder wegsprang, oder nach sei- nem stillern Charakter gelassen davonging nach dem Hoftore zu, um die Fremden und die Kut- sche zu sehen, darin ihre Lotte wegfahren sollte. – „Ich bitte um Vergebung“, sagte sie, „dass ich Sie hereinbemühe und die Frauenzimmer war- ten lasse. Über dem Anziehen und allerlei Be- stellungen fürs Haus in meiner Abwesenheit habe ich vergessen, meinen Kindern ihr Vesper- brot zu geben, und sie wollen von niemandem Brot geschnitten haben als von mir.“ Ich machte ihr ein unbedeutendes Kompliment, meine ganze Seele ruhte auf der Gestalt, dem Tone, dem Betragen, und ich hatte eben Zeit, mich von der Überraschung zu erholen, als sie in die Stube lief, ihre Handschuhe und den Fä- cher zu holen. Die Kleinen sahen mich in einiger Entfernung so von der Seite an, und ich ging auf das jüngste los, das ein Kind von der glücklichs- ten Gesichtsbildung war. Es zog sich zurück, als eben Lotte zur Türe herauskam und sagte: „Louis, gib dem Herrn Vetter eine Hand.“ – das tat der Knabe sehr freimütig, und ich konnte mich nicht enthalten, ihn, ungeachtet seines kleinen Rotznäschens, herzlich zu küssen. […] Wir hatten uns kaum zurecht gesetzt, die Frau- enzimmer sich bewillkommt, wechselsweise über den Anzug, vorzüglich über die Hüte ihre Anmerkungen gemacht und die Gesellschaft, die man erwartete, gehörig durchgezogen, als Lotte den Kutscher halten und ihre Brüder herabstei- gen ließ, die noch einmal ihre Hand zu küssen begehrten, das denn der älteste mit aller Zärt- lichkeit, die dem Alter von fünfzehn Jahren ei- gen sein kann, der andere mit viel Heftigkeit und Leichtsinn tat. Sie ließ die Kleinen noch einmal grüßen, und wir fuhren weiter.Die Base fragte, ob sie mit dem Buche fertig wäre, das sie ihr neulich geschickt hätte. – „Nein“, sagte Lotte, „es gefällt mir nicht, Sie können’s wiederhaben. Das vorige war auch nicht besser.“[…] Ich fand so viel Charakter in allem, was sie sagte, ich sah mit jedemWort neue Reize, neue Strahlen des Geis- tes aus ihren Gesichtszügen hervorbrechen, die sich nach und nach vergnügt zu entfalten schie- nen, weil sie an mir fühlte, dass ich sie verstand. „Wie ich jünger war“, sagte sie, „liebte ich nichts so sehr als Romane. Weiß Gott, wie wohl mir’s war, wenn ich mich sonntags in so ein Eckchen setzen und mit ganzem Herzen an dem Glück und Unstern einer Miss Jonny teilnehmen konn- te. Ich leugne auch nicht, dass die Art noch eini- ge Reize für mich hat. Doch da ich so selten an ein Buch komme, so muss es auch recht nach meinem Geschmack sein. Und der Autor ist mir der liebste, in dem ich meine Welt wiederfinde, bei dem es zugeht wie um mich, und dessen Ge- schichte mir doch so interessant und herzlich wird als mein eigen häuslich Leben, das freilich kein Paradies, aber doch im ganzen eine Quelle unsäglicher Glückseligkeit ist.“[…] Das Gespräch fiel aufs Vergnügen am Tanze. – „Wenn diese Leidenschaft ein Fehler ist“, sagte Lotte, „so gestehe ich Ihnen gern, ich weiß mir nichts übers Tanzen. Und wenn ich was im Kop- fe habe und mir auf meinem verstimmten Kla- vier einen Contretanz vortrommle, so ist alles wieder gut.“ Wie ich mich unter dem Gespäche in den schwarzen Augen weidete – wie die le- bendigen Lippen und die frischen, muntern Wangen meine ganze Seele anzogen – wie ich, in den herrlichen Sinn ihrer Rede ganz versunken, oft gar die Worte nicht hörte, mit denen sie sich ausdrückte – davon hast du eine Vorstellung, weil du mich kennst. Kurz, ich stieg aus dem Wagen wie ein Träumender, als wir vor dem Lusthause stille hielten, und war so in Träumen rings in der dämmernden Welt verloren, dass ich auf die Musik kaum achtete, die uns von dem erleuchteten Saal herunter entgegenschallte. […] QUELLE: http://gutenberg.spiegel.de/buch/3636/1 ; (abgerufen am 01.05.2014) (an neue Rechtschreibung angepasst) 52 54 56 58 60 62 64 66 68 70 72 74 76 78 80 82 84 86 88 90 92 94 96 98 100 102 104 106 108 110 112 114 116 118 120 122 124 126 128 130 132 134 136 138 140 Text- kompetenz Literarische Bildung Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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