sprachreif 1, Schulbuch
143 Models über den Laufsteg schreiten, nur ein Teil einer Massenbewegung – wenn auch der augenfälligste. Die Zu- schauer halten Einzug in ihr Medium, und zwar auf anderen Wegen, als sich die Visionäre des Bürgerfernsehens und die Gründer der „Offenen Kanäle“ zum Start des Privatfernsehens erhofft hatten. Hunderttausen- de sprechen beim Fernsehen vor, um eine Rolle in einer Ge- richtsshow, einer Psychobera- tung, einer Quizsendung oder Doku-Soap zu ergattern. Die genaue Zahl kennt niemand. Allein die Produktionsfirma Grundy Light Entertainment castet für diverse Unterhal- tungsshows, darunter mit Jörg Pilawa, und nach eigenen An- gaben über 100.000 Bewerber jährlich. „Die heutige Generation ist viel ungenierter als frühere“, be- obachtet der RTL-Chef Gerhard Zeiler, „es gibt eine Verände- rung in der Beziehung des Ein- zelnen zur Privatheit.“ Der pas- siv vor der Mattscheibe sitzende Zuschauer stellt sich heute in seinem Guckkasten selbst zur Schau – und sieht seinesglei- chen lustvoll beim selben Trei- ben zu. „Die Leute wollen die Veredelung ihres eigenen Le- bens sehen“, glaubt der Fernseh- produzent Nico Hofmann. Und kommt der Zuschauer nicht zum TV, geht das Fernsehen zum Zuschauer: So hilft ProSie- ben gescheiterten Heimwerkern aus der Bredouille, und Grundy Light Entertainment plant, überforderten Mitbürgern die Bude und das Leben gleich mit aufzuräumen. „Fernsehen und Zuschauer bewegen sich immer weiter auf- einander zu“, glaubt die Grun- dy-Light-Chefin Ute Biernat. Das Fernsehen werde vom Pu- blikum zunehmend als „Forum zur Selbstinszenierung“ ge- nutzt, bestätigt auch Professor Lothar Mikos von der Hoch- schule für Film und Fernsehen in Potsdam-Babelsberg. Dabei gibt es den Wunsch des Publi- kums, sich und seinesgleichen wiederzuentdecken, schon lan- ge. Wetten, dass …? , der Dino- saurier der Samstagabend-Un- terhaltung, lebte davon, dass dort auch Hans und Franz mit- machen und Kunststückchen vorführten. Doch seit Big Brother vor gut drei Jahren erst- mals Freiwillige zwecks Dauer- beobachtung durch die TV-Na- t i on d r e i Mona t e l ang kasernierte, scheint ein Damm gebrochen zu sein. Zu allen Ta- geszeiten und in den unter- schiedlichsten Formaten wim- melt es im Fernsehen von Durchschnittsmenschen und Laiendarstellern, die vorgeben, „echte Menschen“ zu sein. Jene Zuschauer, die sich An- fang 2001 von den Reali- ty-Shows abgewandt hatten, weil zu viel Big Brother und zu viele, zu schlecht gemachte Re- al-People-Shows wie Girlscamp (Sat.1) auf den Markt geworfen worden waren, sehen heute wie- der hin. Selbst die noch Anfang des Jahres von der Unterhal- tungsbranche für tot erklärte Containershow Big Brother ist in diesem Frühjahr erfolgreich wieder auferstanden. […] Mit der Wiederkehr und Ausdifferenzierung des Echt- menschenfernsehens – vom Containertrash bis hin zur grimmepreisgekrönten Schwar- zwald-Reality mit Schulfunkan- strich – scheint Deutschland den Anschluss an den interna- tionalen Fernsehmarkt wieder- gefunden zu haben. In den USA, wo das Genre ohne Un- terbrechung populär war, laufen in diesem Sommer statt der sonst üblichenWiederholungen lauter Real-People-Shows um die Wette. […] Tatsächlich scheint die Trennlinie zwischen fiktivem (also Geschichten erzählen- dem) und dokumentarischem (das heißt aus der Realität be- richtendem) Fernsehen in Auf- lösung begriffen. So wurden die Nachmittagstalks weitgehend von Gerichtsshows und Bera- tungssendungen abgelöst. Die Richter sind echt, die De- linquenten sind in Wirklichkeit Laiendarsteller. Sie hoffen, dass zwar der Kegelklub, aber nicht ausgerechnet der Chef zuguckt, wenn sie den Vergewaltiger mi- men. Der Echtmenschen-Ap- peal der Gerichtssendungen kam so gut an, dass Weiterent- wicklungen dieser Schaupro- zesse den Sprung in den Vora- bend geschafft haben. In Serien wie Lenßen & Partner (Sat.1) bearbeiten ein echter Anwalt und vier vom Sender angelernte Detektive erfundene Fälle. Ge- filmt wird mit elektronischen Kameras im dokumentarisch wirkenden Billiglook. Alles soll aussehen, als ereigne es sich wirklich. „Diese Real-Doku-Formate schließen eine Lücke zwischen Talkshows und Fictionserien“, sagt der Sat.1-Unterhaltung- schef Matthias Alberti. Die Lücke, von deren Existenz vor kurzem noch niemand etwas ahnte, füllt er demnächst mit gleich vier solcher Pseudo-8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 66 68 70 72 74 76 78 80 82 84 86 88 90 92 94 96 98 100 102 104 106 108 110 112 114 116 118 120 122 124 126 128 130 132 134 136 138 140 142 144 146 148 150 152 154 156 Text- kompetenz Mediale Bildung Nur zu Prüfzwecken – Eige tum des Verlags öbv
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