sprachreif 2, Schulbuch
139 kommt. Haas hat eine Dramaturgie der Verlang- samung, der Retardierung gewählt, doch aus dem einzigen Grund, wie man nachher wissen wird, um den Höhepunkt zu einem rauschhaften Erlebnis zu machen, bei dem einem Hören und Sehen und Heiraten vergehen. Es ist die Drama- turgie eines könnerhaft inszenierten Ge- schlechtsaktes. Wir steigern noch ein bisschen, dann gehen wir den Berg ein Stück hinunter und wieder hinauf, dann ist da schon die Stromauto- bahn und der Schmugglerkeller und das Waffen- magazin…und bevor es knallt, gehen wir wie in amerikanischen Wedding-Komödien noch in die Kirche und lassen alles auf das Jawort zurol- len, während aus dem nahen Berg der Donner der Explosion zu rollen beginnt. Ja, am Ende ist man, der Leser zumal, glücklich aufgeputscht, aber auch ein bisschen postkoital erschöpft. Also, die Sache läuft so im Roman von Wolf Haas: Ein Schriftsteller namens Wolf Haas hat einen Roman geschrieben über einen Gast bei Gottschalks „Wetten, dass …?“. Diese Kurzzeit- berühmtheit, auch noch der Wettgewinner des Abends, heißt Vittorio Kowalski und kann alle täglichen Wetterlagen der letzten 15 Jahre in ei- nem alpinen österreichischen Ferienort auswen- dig. Das fand der Erzähler Wolf Haas so interes- sant, dass er den dreißigjährigen Kowalski nach der TV-Show in Essen-Kupferdreh besuchen will, in dem Moment ausgerechnet, als dieser sich zum ersten Mal nach 15 Jahren in sein alpi- nes Feriendorf auf den Weg gemacht hat. Doch Haas erfährt auch so einiges über den stil- len und etwas scheuen Wetterwetter. Dass der nämlich ein Mädchen liebte alldort, vor über 15 Jahren, und dass er dieses Mädchen, die Anni, fast schon vergessen hat, dafür aber 15 Jahre lang jeden Tag in ihrem Dorf angerufen hat, um sich nach dem Wetter zu erkundigen. Dann kommt naturgemäß eine Menge in Bewegung, als Vitto- rio bei Anni ankommt und diese ihn mit ihrem Verlobten Lukki imArm – „als Kind eine brutale Sau“ – überaus herzlich begrüßt. In Bewegung kommt zum Beispiel der gesamte Hausberg des Ortes, und zwar heftig, um es gleich auf den Punkt zu bringen, doch vorher haben wir schon eine solche genaue Lektion über Vulkanismus und seine Auswirkungen auf das weltweite Wet- ter gelernt, dass es von dort zur Sexualität und mit Foucault weiter zu politisch-historischen Hi- störchen (sprich Diskursen) und weiter zur ame- rikanischen Slapstick-Komödie und von dort zur Erlösung von allen Übeln – im Roman konven- tionellerweise Happy End genannt – nur noch kleine Schritte sind, die der ungläubig staunende Leser wie in Trance bereitwillig mitgeht. […] QUELLE: http://www.zeit.de/2006/40/L-Haas ; (abgerufen am 30.07.2015) 54 56 58 60 62 64 66 68 70 72 74 76 78 80 82 84 86 88 90 92 94 96 98 100 102 104 106 108 Im Laufe des Schuljahres haben Sie sich bereits mehrmals mit sprachlichen Stilmitteln beschäftigt. Untersuchen Sie die beiden soeben gelesenen Rezensionen und unterstreichen Sie einige der verwen- deten Stilmittel. Vergleichen Sie anschließend, welche Rezension häufiger mit Stilmitteln arbeitet. Eine Kritik verfassen Wenn Sie selbst eine Kritik oder Rezension verfassen, können Sie sich an der folgenden Checkliste orientieren: ✓ klarer Bezug auf rezensiertes Werk (Titel, Autorin/Autor, Aufführungsdatum, …) ✓ kurze inhaltliche Darstellung ohne den Schluss ✓ subjektive Meinung zu Inhalt/Darstellung/Gestaltung/Mitwirkenden … ✓ Begründungen für die geäußerte Meinung ✓ möglicher Vergleich mit anderen Werken ✓ Empfehlung A17 Text- kompetenz Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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