sprachreif 2, Schulbuch

148 Dort unterrichtet der Rektor des Collegium Fridericianum, der besten Lateinschule des Landes. Ihm fällt Kants wacher Geist auf, und er lädt ihn ein, seine Schule zu besuchen, in der sonst nur die Kinder der Kö- nigsberger Oberschicht verkeh- ren. Kant ist ein guter Schüler, fast immer Klassenbester, aber ger- ne geht er nicht in den Unter- richt. Der „Gängelwagen der Regeln“, schimpft er später, „verdirbt die Genies“. Als Kant dreizehn Jahre alt ist, stirbt sei- ne geliebte Mutter, drei Jahre später schließt er die Schule ab. Für welches Fach er sich dann 1740 an der Albertina ein- schreibt, der Universität Kö- nigsberg, geht aus den Quellen nicht hervor; man vermutet, dass er Vorlesungen in Philoso- phie, aber auch inTheologie be- suchte, was auch sonst. In seiner Studienzeit ist Kant ein Stubenhocker – seine Hei- matstadt verlässt er nie, und ein wildes Studentenleben führt er auch nicht. Die Saufgelage und Prügeleien seiner Kommilito- nen findet er würdelos, für Mädchen interessiert sich der Bücherfreund nicht; ein Um- stand, der vielleicht auf Gegen- seitigkeit beruht: Kant ist klein und dünn, leidet an schwachen Nerven, Herz- und Atempro- blemen; er kann keine frisch ge- druckte Zeitung lesen, ohne niesen zu müssen. Die meiste Zeit sitzt er lesend in der Stube oder unternimmt Spaziergänge, um seine Lunge an der frischen Luft zu kurieren. Das Geld, das ihm sein Onkel und ein Freund schicken, ist knapp: Wenn er einen Termin hat, mit dem Ausbessern seiner löchrigen Kleider aber nicht fertig wird, leiht er sich Hosen, Herrenrock und Stiefel von ei- nem ebenso klammen Freund, der dann im Unterhemd zu Hause auf ihn wartet. Über Wasser hält sich Kant mit Nachhilfestunden in Philoso- phie, wofür er von seinen Kom- militonen Bares oder teure Köstlichkeiten wie Weißbrot und Kaffee bekommt. Und zum Glück beherrscht er Billard und Kartenspiele, seine einzigen Hobbys, so gut, dass er damit in den Kaffeehäusern Königsbergs ein bisschen Geld verdienen kann. Als 1746 auch sein Vater stirbt, muss Kant für seine Geschwis- ter sorgen. Er nennt sich nun „Immanuel“, warum, das weiß man nicht genau, vermutlich weil es die Urform seines Na- mens ist und bedeutsamer klingt. Er schreibt ein Buch mit einer neuen Theorie zur Kraft- messung, die Gedanken von der Schätzung der lebendigen Kräfte , doch niemand interessiert sich dafür. Enttäuscht verlässt Kant seine Heimatstadt und wird mit 24 Jahren Hauslehrer auf dem Land, damals ein typischer Job für mittellose Akademiker. Spä- ter kehrt er zurück und wird als Universitätsdozent so etwas wie ein Lebemann: ein gern gesehe- ner Partygast, der in der Kö- nigsberger Upperclass verkehrt und elegante Kleidung trägt. Einige Zeit später erfüllt sich sein akademischer Traum, Kant erhält eine Professur für Logik und Metaphysik an der Königs- berger Universität. Sein Haupt- werk, die Kritik der reinen Ver- nunft , macht ihn 1781 im ganzen Land bekannt. Und als er dann drei Jahre später in ei- nem Essay seinen unsterblichen Satz schreibt: „Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“, ist der stets kränkliche Handwer- kersohn zum wichtigsten Vor- denker der deutschen Aufklä- rung geworden. Wie Kant heute wäre? Er würde in der kleinsten Bude des Stu- dentenwohnheims leben, dort, wo es günstig ist. Die Mädchen schätzen ihn für seine kluge, charmante Art, doch dass Kom- militonen bei StudiVZ Mädels anflirten, bleibt ihm fremd. Auch dass sein Kumpel ein Erasmus-Jahr in Barcelona macht, kann er nicht verstehen – seine Heimat reicht ihm voll- kommen. Kant ist viel daheim, lebt von Bafög, schaut Billard- und Pokerturniere im Sport- fernsehen und ersteigert ge- brauchte Kleider im Internet. Seit er mit seinem Ethikblog www.moralundalltag.de einen Wettbewerb gewonnen hat, will er sich nicht mehr auf eine Uni- Karriere festlegen. Ihm macht es Freude, seinen Lesern Tipps zur ethisch korrekten Lebens- führung in Zeiten der Rezession zu geben. Einfühlsam beant- wortet er ihre Fragen, auch die von davidhume76, einem Leser aus London, der immer Wider- worte gibt. Und wenn ihn Ver- wandte fragen: „Was willst du mit deinem Philosophiestudi- um später arbeiten?“, dann sagt er: „Ein Philosophisches Quar- tett im Fernsehen moderieren, so wie dieser Sloterdijk, aber vernünftiger.“ QUELLE: http://www.zeit.de/campus/2009/04/ehemalige-kant/seite-2 ; (abgerufen am 13.07.2015) 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 66 68 70 72 74 76 78 80 82 84 86 88 90 92 94 96 98 100 102 104 106 108 110 112 114 116 118 120 122 124 126 128 130 132 134 136 138 140 142 144 146 148 150 152 154 156 158 160 162 Literarische Bildung 5 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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