sprachreif 2, Schulbuch

153 Emilia. Und warum er tot ist! Warum! Ha, so ist es wahr, mein Vater? So ist sie wahr, die ganze schreckliche Geschichte, die ich in dem nassen und wilden Auge meiner Mutter las? – Wo ist meine Mutter? Wo ist sie hin, mein Vater? Odoardo. Voraus – wenn wir anders ihr nach- kommen 1 . Emilia. Je eher, je besser. Denn wenn der Graf tot ist, wenn er darum tot ist – darum! was verwei- len wir noch hier? Lassen Sie uns fliehen, mein Vater! Odoardo. Fliehen? – Was hätt‘ es dann für Not? – Du bist, du bleibst in den Händen deines Räu- bers. Emilia. Ich bleibe in seinen Händen? Odoardo. Und allein, ohne deine Mutter, ohne mich. Emilia. Ich allein in seinen Händen? – Nimmer- mehr, mein Vater. – Oder Sie sind nicht mein Vater. – Ich allein in seinen Händen? – Gut, las- sen Sie mich nur, lassen Sie mich nur. – Ich will doch sehn, wer mich hält – wer mich zwingt – wer der Mensch ist, der einen Menschen zwin- gen kann. Odoardo. Ich meine, du bist ruhig, mein Kind. Emilia. Das bin ich. Aber was nennen Sie ruhig sein? Die Hände in den Schoß legen? Leiden, was man nicht sollte? Dulden, was man nicht dürfte? Odoardo. Ha! wenn du so denkest! – Laß dich umarmen, meine Tochter! – Ich hab es immer gesagt: das Weib wollte die Natur zu ihremMeis- terstücke machen. Aber sie vergriff sich im Tone, sie nahm ihn zu fein. Sonst ist alles besser an euch als an uns. – Ha, wenn das deine Ruhe ist, so habe ich meine in ihr wiedergefunden! Laß dich umarmen, meine Tochter! – Denke nur: unter dem Vorwande einer gerichtlichen Unter- suchung – o des höllischen Gaukelspieles! – reißt er dich aus unsern Armen und bringt dich zur Grimaldi. Emilia. Reißt mich? bringt mich? – Will mich reißen, will mich bringen: will! will! – Als ob wir, wir keinen Willen hätten, mein Vater! Odoardo. Ich ward auch so wütend, daß ich schon nach diesem Dolche griff (ihn herauszie- hend), um einem von beiden – beiden! – das Herz zu durchstoßen. Emilia. Um des Himmels willen nicht, mein Vater! – Dieses Leben ist alles, was die Lasterhaften haben. – Mir, mein Vater, mir geben Sie diesen Dolch. Stellen Sie in Hinblick auf Sprache, Aufbau und Figuren einen Vergleich des bürgerliches Trauerspiels mit dem klassischen Drama, das Sie aus Band 1 kennen, an. Beziehen Sie sich dabei auf das hier bearbeitete Stück und versuchen Sie, einige Unterschiede zu formulieren. Zwischenstopp Sie sollten jetzt folgende Teilkompetenzen erworben haben: • ein Theaterstück dramaturgisch aufbereiten können • Recherchen über Autorinnen/Autoren und ihre Werke durchführen können • über die Bedeutung von Entwicklungen und Veränderungen im Theater reflektieren können 1 Der Vater meint hier: wenn wir überhaupt nachkommen. A40 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 66 68 Mediale Bildung Literarische Bildung Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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