Erziehung und Unterricht 2018/3+4
264 Anderl, Fluchthilfe in Vergangenheit und Gegenwart Erziehung und Unterricht • März/April 3-4|2018 Gabriele Anderl Fluchthilfe in Vergangenheit und Gegenwart Summary: Wenn Menschen vor Verfolgung, Krieg und Elend flüchten müssen, stehen sie oft vor verschlossenen Toren – sie sind in Ländern, die ihnen Zuflucht bieten könnten, nicht willkommen. In dieser Situation sehen viele von ihnen keinen anderen Ausweg, als ihr Leben Fluchthelfern und Schleppern anzuvertrauen. Fluchthilfe versus Menschenhandel In der Berichterstattung – nicht nur der Boulevardpresse, sondern vielfach auch der Quali- tätsmedien und des öffentlich-rechtlichen Rundfunks –, wird Fluchthilfe heute fast aus- nahmslos unter dem Begriff „Schlepperei“ abgehandelt. Fluchthelferinnen und Fluchthelfer werden pauschal als Mitglieder „krimineller Banden“ bezeichnet, ihre Tätigkeit gilt ge- meinhin als „menschenverachtendes Geschäft“. Unbestritten ist, dass es in diesem Kontext immer auch Kriminalität und Ausbeutung gegeben hat und sich heute mehr denn je skrupellose mafiöse Netzwerke in dieses Ge- schäft eingeklinkt haben, Akteure, die den Tod von Geflüchteten nicht nur in Kauf nehmen, sondern mitunter sogar willentlich herbeiführen. Ein drastisches Beispiel sind die 71 Toten, die am 27. August 2015 an der Ostautobahn nahe der burgenländischen Gemeinde Parn- dorf in einem Kühllastwagen aufgefunden wurden. Die Schlepper hatten die in dem Fahr- zeug Eingeschlossenen einfach ersticken lassen. Andererseits zeigt das Beispiel der „Cap Anamur“, welche Folgen die undifferenzierte Kriminalisierung von Fluchthilfe zeitigen kann: Der deutsche Journalist Elias Bierdel hatte 2004 als Mitglied der gleichnamigen Hilfsorganisation mit der Schiffsbesatzung 37 afrika- nische Flüchtlinge vor der Insel Lampedusa aus der Seenot gerettet. Die italienischen Be- hörden ließen die erschöpften Passagiere erst nach Wochen an Land und schoben sie un- mittelbar danach ab. Das Schiff wurde beschlagnahmt, Bierdel, der Kapitän und der erste Offizier wurden verhaftet und vor Gericht gestellt. Jahre später, 2009, kam es dann zu ei- nem Freispruch. ( Anderl/Usaty 2016, Vorwort, S. 17) Dass sogar eine kritische Auseinandersetzung mit dem Thema gefährlich werden kann, erfuhr der Obmann von „Asyl in Not“, Michael Genner. 2013 hatte er auf der Homepage der NGO in dem Artikel „Schlepper und Lumpen“ folgendes geschrieben: „Es gibt auch Schlep- per, die Verbrecher sind. Die ihre Leute elendig sterben lassen. Oder Frauen auf den Skla- vinnenmarkt liefern. Zuhälter und Mörder! Keine Frage. (…) Aber vor jedem ehrlichen Schlepper, der saubere Arbeit macht: der seine Kunden sicher aus dem Land des Elends und des Hungers, des Terrors und der Verfolgung herausführt, der sie sicher hereinbringt, den Grenzkontrollen zum Trotz, in unser ‚freies‘ Europa, habe ich Achtung. Er ist ein Dienst- leister, der eine sozial nützliche Tätigkeit verrichtet und dafür auch Anspruch hat auf ein angemessenes Honorar.“ (zit. bei Kittenberger 2016, S. 507 f.) Gegen Genner wurde auf Basis des Paragraphen 282, Absatz 2, 1 ein Strafverfahren ein- geleitet, nach massiven öffentlichen Protesten jedoch eingestellt: Die Oberstaatsanwalt- schaft Wien gestand ihm zu, ein differenziertes Bild von Schleppern gezeichnet zu haben,
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