Erziehung und Unterricht 2018/3+4
Anderl, Fluchthilfe in Vergangenheit und Gegenwart 265 Erziehung und Unterricht • März/April 3-4|2018 und befand, dass „ein Aufreizen zur Begehung einer solchen Tat“ seinem Text nicht zu ent- nehmen sei. ( Kittenberger 2016, S. 511 f., Zitat S. 512) Obwohl die angesprochenen missbräuchlichen Formen von Schlepperei keine Ausnah- meerscheinungen sind, sollten die grundsätzlichen Unterschiede zwischen Schlepperei und Menschenhandel nicht verwischt werden. Schlepperei kann als das illegale Über-die- Grenze-Befördern von Personen gegen Entgelt definiert werden. Es handelt sich also um eine (nicht legale) Dienstleistung, während Menschenhandel ein spezifisches Ausbeu- tungsverhältnis impliziert und vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte aus- drücklich als eine Form der Sklaverei eingestuft wird. Während Schlepperei auf der Einwil- ligung der geschleppten Personen basiert, steht beim Menschenhandel Zwang im Vorder- grund. Schlepperei ist daher per definitionem kein Vergehen gegen die Geschleppten, son- dern gegen den Staat. ( Baxewanos 2016, S. 426 f.) Verschlossene Tore Schlepperei ist fast immer ein Resultat der Abschottungspolitik von Staaten gegen Flüch- tende sowie Migrantinnen und Migranten. Das gilt für die Vergangenheit ebenso wie für die Gegenwart. Die Voraussetzungen sind ähnlich: Menschen, die vor Not, Verfolgung und Krieg flüchten, auf der einen Seite, potentielle Zufluchtsländer, die den Betroffenen den Zugang zu ihren Territorien verwehren, auf der anderen Seite. Auch in der politischen Rhetorik finden sich auffallende Parallelen zwischen den 1930er/ 1940er Jahren und der Gegenwart. Schon damals begründeten die Staaten der „freien Welt“ ihre restriktive Haltung mit der schwierigen Wirtschaftslage, wachsenden Arbeitslosen- zahlen sowie der Gefahr der „Überfremdung“ und sozialer Spannungen. Ähnlichkeiten auf- zuzeigen bedeutet freilich nicht, den NS-Staat mit heutigen Terrorregimen zu vergleichen oder die Singularität der Shoah in Frage zu stellen. Die großen Fluchtbewegungen aus dem nationalsozialistischen Deutschland setzten 1933 und verstärkt nach dem „Anschluss“ Österreichs 1938 ein. Bis 1940/41 stand die anti- jüdische Politik der Nationalsozialisten im Zeichen der systematischen Vertreibung, verbun- den mit der wirtschaftlichen Ausplünderung der Jüdinnen und Juden. Erst 1941 wurden die Grenzen des Deutschen Reiches dicht gemacht, und die Herrschaftsträger gingen zu einer Politik der systematischen physischen Vernichtung über. Nachdem die Nationalsozialisten im Oktober 1941 die jüdische Auswanderung offiziell verboten hatten, wurden die Rettungsversuche noch ungleich riskanter. Bis dahin war die Ausreise aus dem Deutschen Reich für jüdische Flüchtlinge legal gewesen, sofern die dis- kriminierenden Steuern bezahlt worden waren und nicht gegen die Devisengesetze ver- stoßen wurde. Danach war sowohl die Ausreise aus Deutschland als auch die Einreise in die Zufluchtsländer illegal. Die Flüchtenden sowie deren Helfer begaben sich in höchste Lebensgefahr. Für politische Flüchtlinge galt dies bereits ab 1933. Die verzweifelten Bemühungen der Verfolgten, an irgendeinem Ort der Welt Zuflucht zu finden, blieben vielfach vergeblich. Schon bei der internationalen Flüchtlingskonferenz in Evian am Genfersee Anfang Juli 1938 wurde die Abwehrhaltung der internationalen Staa- tengemeinschaft offensichtlich. Antisemitismus und eine generelle Ablehnung von „Frem- den“ waren in Europa ebenso weit verbreitet wie in Übersee. In allen Ländern wurde nationaler Egoismus über humanitäre Erwägungen gestellt. „Die Hilfeleistung der westlichen Welt bei der Endlösung der deutschen Judenfrage“ lautet der provokante Titel eines 1981 erschienenen Buches des Schweizer Historikers Ralph Weingar- ten über die Konferenz von Evian. Diese und die halbherzigen weiteren Bemühungen um eine Lösung des „Flüchtlingsproblems“ hätten deutlich gemacht, „dass die Länder der Welt
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