Erziehung und Unterricht 2018/3+4
266 Anderl, Fluchthilfe in Vergangenheit und Gegenwart Erziehung und Unterricht • März/April 3-4|2018 kein Interesse an der Rettung dieser Menschen hatten. Statt sie als Flüchtlinge aufzuneh- men, sperrten sie sie aus. Hunderttausende konnten deshalb Deutschland nicht verlassen und wurden ermordet.“ ( Weingarten 1981, S. 204) Beispiele illegaler Fluchtbewegungen während der NS-Zeit Bereits im Rahmen der Fluchtbewegungen in den Jahren 1933 bis 1945 war das Überschrei- ten von mehr oder weniger gut gesicherten Land- und Seegrenzen, oftmals in Verbindung mit anderen nicht gesetzeskonformen Praktiken wie dem Fälschen von Visa oder Doku- menten, wesentlich häufiger als allgemein bekannt. Solche Fluchtversuche konnten tra- gisch scheitern, vielfach erwiesen sie sich jedoch als lebensrettend. Hätte es diese Ver- stöße gegen bestehende gesetzliche Regelungen der Einwanderungsländer nicht gegeben, wäre die Zahl der Shoah-Opfer noch um vieles höher gewesen. Zu den Ländern, die wegen ihrer geographischen Lage in besonderem Maße von der il- legalen Einreise politisch und rassistisch Verfolgter betroffen waren, zählte die neutrale Schweiz. Ihre Flüchtlingspolitik während der NS-Zeit stellt eines der dunkelsten Kapitel in der Geschichte dieses Landes dar. Sie folgte, wie der Historiker und Journalist Stefan Keller festgestellt hat, mit wenigen Ausnahmen „direkt dem Rhythmus der nationalsozialisti- schen Rassenpolitik“: „Immer dann, wenn im Deutschen Reich oder in den besetzten Län- dern (...) die Verfolgung zunahm und sich Menschen davor zu retten versuchten, ver- schärfte die Schweiz ihre Asylbestimmungen.“ ( Keller 2005, S. 198) Wichtige illegale Fluchtrouten verliefen an der Grenze Vorarlbergs zur Schweiz: im Hochgebirge zwischen dem Montafon und dem Prättigau sowie im Rheintal – an Grenz- abschnitten, an denen schon früher der Schmuggel mit Waren floriert hatte. Durch die große Nachfrage nach Ortskundigen entwickelte sich hier wie andernorts in kurzer Zeit ein eigener informeller Wirtschaftszweig. Personen, die die Schleichwege und die Grenzsicherungssysteme kannten, waren für die illegalen Fluchtbewegungen unver- zichtbar. Als Fluchthelfer agierten meist junge Arbeitslose, Bauern oder Fischer, die einen Zusatzverdienst suchten. Es gab Fluchthelfer, für die die illegalen Grenzführungen Gele- genheitsjobs blieben. Häufig kam es jedoch zu einer gewissen Professionalisierung mit fes- ten Tarifen. Die Honorare waren von Angebot und Nachfrage abhängig. Je aussichtsloser die Lage der Verfolgten wurde und je riskanter sich die Rettungsunternehmungen gestal- teten, desto rascher stiegen die Preise. (siehe u. a. Hessenberger 2016, Kaspar 2016, Dürr 2016) Ein anderer Hotspot der Fluchthilfe während der NS-Zeit war das Eifel-Ardennen-Gebiet zwischen Deutschland und Belgien. Für den illegalen Grenzübertritt nutzte man hier an- fangs gern die alte Vennbahn, deren Trasse durch deutsches und belgisches Staatsgebiet führte, man tarnte sich als Sonntagsausflügler oder schloss sich Exkursionen von Vogel- kundlern oder den wöchentlichen Prozessionen von Aachen zum belgischen Marienwall- fahrtsort Moresnet an, um sich jenseits der Grenze abzusetzen. Im Laufe der Zeit wurde die illegale Einreise nach Belgien aber immer schwieriger und gefährlicher. Die oft ungenügend auf die Strapazen vorbereiteten Flüchtlinge mussten sich etwa unter Lastwagenplanen oder im Innern von Wassertankfahrzeugen verbergen. Eigens geschulte belgische Grenzgendarmen mit schweren Motorrädern und schwarzen Helmen, in der Bevölkerung „Judenfänger“ genannt, hatten den Auftrag, illegale Einreisende aufzu- spüren und sie unverzüglich an die deutschen Behörden auszuliefern. ( Arntz 1990) Zu den wichtigsten Unternehmungen zur Rettung von Jüdinnen und Juden aus dem na- tionalsozialistischen Machtbereich zählten die illegalen Schiffstransporte in das damalige britische Mandatsgebiet Palästina. Sie wurden großteils, aber nicht ausschließlich von zio-
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