Erziehung und Unterricht 2018/3+4
Anderl, Fluchthilfe in Vergangenheit und Gegenwart 267 Erziehung und Unterricht • März/April 3-4|2018 nistischen Aktivisten durchgeführt. Die Briten brachten die Schiffe mit Kreuzern und Zer- störern in internationalen Gewässern auf und internierten die Ankommenden hinter Sta- cheldraht in militärisch bewachten Lagern. Ende 1940 wurden rund 1.500 Flüchtlinge straf- weise auf die Insel Mauritius transportiert und dort bis nach Kriegsende in ein altes Ge- fängnis gesperrt. ( Anderl 1992 und 2014; Kumar 2016) Die Passagiere der illegalen, oft seeuntauglichen Schiffe mussten oft wochenlang auf engstem Raum zusammengepfercht ausharren. Zwielichtige Reeder verlangten exzessive Preise für abgetakelte Dampfer – „Särge im wahrsten Sinn des Wortes“, wie ein Überleben- der sie nannte. Zahlreiche Flüchtlinge starben während der Reise infolge von Hunger, Krankheiten oder Schiffskatastrophen. Gut-Böse-Schema Die Fluchthelferinnen und -helfer von damals werden zum Teil bis in die Gegenwart krimi- nalisiert oder in der Historiographie gemäß einem simplen Gut-Böse-Schema beurteilt. Da- bei wird eine vermeintlich klare Trennlinie zwischen jenen gezogen, die Menschen aus po- litischer Überzeugung oder christlicher Nächstenliebe gerettet, und anderen, die ihre Dienstleistung gegen Bezahlung, somit aus „Profitgier“, angeboten hätten. De facto waren die Grenzlinien unscharf, denn auch bei Fluchthilfe aus idealistischen Motiven kam es viel- fach zu Kooperationen mit professionellen Schleppern. So nutzte der amerikanische Jour- nalist Varian Fry, der rund 2000 Verfolgten des NS-Regimes die Flucht aus Frankreich über die Pyrenäengrenze ermöglichte, Verbindungen zu Mafiakreisen in Korsika und Marseille, um gefälschte Pässe zu beschaffen. ( Klein 2007; Sorgos 2016; Lackner 2017) Zahlreiche konfessionelle wie nichtkonfessionelle Hilfsorganisationen und politische Gruppierungen, aber auch jüdische Gemeinden waren in die illegale Fluchthilfe involviert. Bruchlinien verliefen quer durch diverse Organisationen. Während für die einen die extre- me Notlage fast jedes Mittel rechtfertigte, weigerten sich andere – unter ihnen viele Frau- en – bis zuletzt, den Weg der Legalität zu verlassen. Sie wie auch Beamte und Diplomaten, die bewusst gegen Gesetze verstießen, um Verfolgten zu helfen, mussten dafür oft einen hohen Preis bezahlen. Das galt etwa für den Schweizer Polizeihauptmann Paul Grüninger und den portugiesischen Konsul Aristides de Sousa Mendes, die ihre Posten verloren und verarmt starben. ( Keller 2016; Jürgens 2015) Für die meisten Überlebenden war es im Rückblick nicht von vorrangiger Bedeutung, ob die Fluchthelferinnen und -helfer für ihre Tätigkeit Geld verlangt hatten oder nicht. Viel entscheidender war für sie die Tatsache, dass sie den Verfolgern entkommen waren. Ein negatives Bild zeichneten vor allem jene, deren Fluchtversuche misslungen oder jene, die von den Schleppern im Stich gelassen oder ihrer letzten Habe beraubt worden waren. ( An- derl 2016) Das lässt sich besonders gut am Beispiel des steirischen „Judenschleppers“ Josef Schleich verdeutlichen. Schleich, der an der Grenze zu Jugoslawien aktiv war, kooperierte mit verschiedenen jüdischen Organisationen, stand aber gleichzeitig in engem Kontakt mit der Gestapo. Einige Überlebende warfen ihm nach Kriegsende vor, sich unter Ausnutzung ihrer Notlage bereichert zu haben, und brachten ein Strafverfahren gegen ihn ins Rollen. Andere Gerettete versuchten demgegenüber bis in die jüngere Vergangenheit – allerdings vergeblich –, die Jerusalemer Holocaustgedenkstätte Yad Vashem zu einer Ehrung Schleichs als „Gerechter unter den Völkern“ zu bewegen. ( Halbrainer 2016) Ein Teil der Fluchthelferinnen und -helfer von damals wurde, wenn auch erst Jahrzehnte später, rehabilitiert. Im Fall Paul Grüningers gelang dies erst nach Überwindung massiver politischer Widerstände. Auf Basis eines 2004 beschlossenen „Bundesgesetzes über die
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