Erziehung und Unterricht 2018/3+4
286 Gaidoschik, Schwächen im Rechnen vorbeugen – durch Mathematikunterricht! Erziehung und Unterricht • März/April 3-4|2018 dernfalls werden viele Kinder den Zahlenstrahl in erster Linie zum Abzählen von Quer- strichen nutzen und auf diesem keine dezimalen Strukturierungen erkennen bzw. wer- den einen „leeren Zahlenstrahl“ nicht selbstständig dezimal strukturieren und entspre- chend nutzen können ( Scherer & Moser Opitz 2010; Gaidoschik 2015b). Die Grundlage aller Anwendungen von Mathematik: Operationsverständnis Auch mit Bezug auf den dritten für mathematische Lernschwierigkeiten zentralen Bereich, das Operationsverständnis, sind empirische Befunde zum Einfluss des Unterrichts spärlich gesät. Eine der wenigen umfassenden Studien zu diesem Thema ( Royar 2013) lässt aber zum einen vermuten, dass gravierende Defizite im Verständnis speziell der Multiplikation und Division weit verbreitet sind: Nur 68 Prozent der von Royar in der Schweiz interviewten Kinder von fünf dritten Klassen konnten eine Multiplikationsaufgabe mit Material nach- vollziehbar erklären, nur 38 Prozent eine Divisionsaufgabe. Zum anderen liefert die Studie zumindest Hinweise dafür, dass der Anteil von Kindern mit Schwierigkeiten in diesem Be- reich weniger hoch ist, wenn im Unterricht der Erarbeitung und Festigung von Operations- verständnis höhere Aufmerksamkeit gewidmet wird ( Royar 2013). Erneut muss davor gewarnt werden, die Herausforderung zu unterschätzen, vor der Kinder hier stehen. Zu bedenken ist, dass höchst unterschiedliche Sachsituationen durch dieselbe Rechenoperation „mathematisiert“ werden können. So kann eine Multiplikation wie 3 ∙ 4 dazu dienen, einen Preis zu ermitteln, eine Strecke, eine Zeitdauer, eine Fläche, eine Anzahl von Kindern (drei Gruppen zu je vier), von Keksen auf einem Backblech (drei Reihen zu je vier), und vieles mehr. Die all diesen Anwendungen gemeinsame mathemati- sche Struktur erschließt sich nicht von selbst. Viele Kinder sind darauf angewiesen, dass solche strukturellen Gemeinsamkeiten im Unterricht immer wieder aufs Neue gezielt the- matisiert werden. Sie müssen immer wieder aufs Neue dazu aufgefordert werden, ent- sprechende Übersetzungen zwischen Rechentermen und Sachsituationen herzustellen, auch zwischen Rechentermen und Veranschaulichungen bzw. Materialhandlungen. Ge- schieht dies nicht oder nicht ausreichend oder nur in der ersten Phase der Erarbeitung ei- ner Rechenart, werden viele Kinder kein zureichendes Operationsverständnis entwickeln und dauerhaft absichern können. Abschließende Bemerkungen Lorenz und Radatz (1993) halten in ihrem immer noch lesenswerten „Handbuch des För- derns im Mathematikunterricht“ fest, dass uns die sogenannt „rechenschwachen“ Kinder in „pointierter Weise“ vor Augen führen, welche Herausforderungen die Grundschulmathema- tik für alle Kinder bereithält ( Lorenz & Radatz 1993, S. 29). In gleicher Weise lässt sich sagen, dass an den Schwierigkeiten dieser Kinder deutlich wird, welch gewaltige Herausforderung es für Lehrkräfte darstellt, Mathematik gut zu unterrichten. Während viele Kinder sich die Strukturen, die das Wesen der Grundschulmathematik ausmachen, weitgehend selbst- ständig erschließen, sind andere offenbar darauf angewiesen, dass Einsicht in diese Struk- turen in einem didaktisch und methodisch sorgfältig geplanten Unterricht sehr gezielt, ge- duldig, mit ausreichenden Übungsphasen und Wiederholungsschleifen erarbeitet und ge- festigt wird. Die aktuelle Mathematikdidaktik hat dazu einiges an fundierten Anregungen anzubie- ten; wesentliche davon wurden in diesem Beitrag skizziert. Zweifelsohne besteht diesbe- züglich noch großer Bedarf an Entwicklungs- wie auch Evaluationsforschung (vgl. Gai- doschik 2015b). Aus fachdidaktischer Sicht spricht aber vieles dafür, dass ein beträchtlicher Teil dessen, was heute von mancher Seite als „Dyskalkulie“ und „Rechenschwäche“ klassifi-
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