Literaturräume, Schulbuch [Prüfauflage]

100 Aufklärung (1720–1770) Prinzen bringen. Dort ist sie seinen Annäherungen ausgeliefert. Sie ist nicht sicher, ob sie den Verfüh­ rungskünsten des Prinzen wird widerstehen können. Denn weder die elterliche Erziehung noch das gesell­ schaftliche Umfeld hatten Emilia bisher als selbständi­ ge und bewusst handelnde Person gelten lassen. Und da sie niemals Gelegenheit hatte, bewusst zu handeln, ist sie auch in dieser Extremsituation nicht in der Lage, sich eine Lösung vorzustellen. Emilia bittet ihren Vater Odoardo, der auf das Schloss Gonzagas gekommen ist und den Zusammenhang zwischen dem Überfall und dem Prinzen durchschaut hat, sie zu töten. Sie sieht keinen anderen Weg, ihre Unschuld, die sie auch als Zeichen der moralischen Überlegenheit gegenüber dem Prinzen wertet, zu bewahren. Emilia: Mir, mein Vater, mir geben Sie diesen Dolch. Odoardo: Kind, es ist keine Haarnadel. Emilia: So werde die Haarnadel zum Dolche! – Gleichviel. Odoardo: Was? Dahin wär’ es gekommen? Nicht doch; nicht doch! Besinne dich. – Auch du hast nur ein Leben zu verlieren. Emilia: Und nur eine Unschuld! Odoardo: Die über alle Gewalt erhaben ist. – Emilia: Aber nicht über alle Verführung. – Gewalt! Gewalt! Wer kann der Gewalt nicht trotzen? Was Gewalt heißt, ist nichts: Verführung ist die wahre Gewalt. – Ich habe Blut, mein Vater; so jugendli- ches, so warmes Blut […]. Auch meine Sinne sind Sinne. Ich stehe für nichts. […] Als Emilia ihren Vater auf die Tat des Verginius in Livius’ Bericht hinweist, tötet Odoardo seine Tochter: Emilia: […] Ehedem wohl gab es einen Vater, der seine Tochter von der Schande zu retten, den ersten, den besten Stahl in das Herz senkt […]. Aber alle solche Taten sind von ehedem! Solcher Väter gibt es keinen mehr! Odoardo: Doch, meine Tochter, doch! (indem er sie durchsticht) Gott, was hab’ ich getan! (Sie will sinken, und er fasst sie in seine Arme.) Emilias Tod bleibt folgenlos Wie Verginia wird auch Emilia geopfert. Im antiken Rom führte der Tod Verginias zu einer Revolution des Volkes gegen den Willkürherrscher Appius Claudius. Was im Rom der Antike einen politischen Aufstand auslöste, bleibt jedoch im Absolutismus folgenlos. Der Prinz ist zwar vom Tod Emilias betroffen – laut Les­ sings Szenenanweisung betrachtet er die Tote „mit Entsetzen und Verzweiflung“ –, er schiebt die Verant­ wortung jedoch auf seinen Sekretär. Eine Untersu­ chung des Überfalls ist in der absolutistischen Staats­ ordnung nicht vorgesehen. Nur die religiöse Hoffnung auf Vergeltung bleibt: Er erwarte ihn vor dem „Richter unser aller!“ , wirft Odoardo dem Prinzen entgegen. Rechtliche oder politische Folgen gibt es nicht. Unschuld als Abgrenzung gegenüber dem verdorbenen Adel Emilias Selbstopferung ist unter den Wertmaßstäben des 21. Jahrhunderts ohne Zweifel nur sehr schwierig zu begreifen. Die Bewahrung jungfräulicher Unschuld um den Preis des Lebens wird in unserer Kultur wohl eher skeptisch bewertet. Für das Bürgertum des 18. Jahrhunderts war hingegen die Bewahrung weibli­ cher Unschuld als demonstrative Abgrenzung gegen den für moralisch verdorben gehaltenen Adel wichtig und verständlich. Elfriede Jelinek schreibt „Emilia Galotti“ weiter Für die Aufführung der „Emilia“ im Schauspielhaus Graz 2004/2005 schrieb die österreichische Nobelpreis­ trägerin Elfriede Jelinek einen eigenen Zusatz. Jelinek sieht das Drama als Beispiel für die Schwierigkeit, der Verführung durch die Mächtigen zu widerstehen. Je­ lineks Epilog endet mit den folgenden Worten: Die Menschen sollen ihr gespieltes Widerstreben ge- gen einen Führer für ein paar Zuckerln sofort aufge- ben. Sie sind immer dazu bereit. Sie sind alle hinge- bungsvoll wie Frauen, sie sind alle Frauen, auch wenn sie gar keine sind. 2 4 6 8 10 12 14 2 4 6 8 2 4 Überblick Fundament Leseraum Maturaraum Zusammen­ fassung Literatur­ übersicht Grenzenlos Fokus Nur zu Prüfzwecken – Eigen um des Verlags öbv

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