Literaturräume, Schulbuch [Prüfauflage]
106 Aufklärung (1720–1770) Voltaire: Spott für die Theorie von der besten aller Welten Der französische Philosoph Voltaire (eigentlich Jean Ma rie Arouet, 1694–1778), einer der einflussreichsten Den ker des 18. Jahrhunderts, nahm ausführlich zu diesen Interpretationen des Erdbebens Stellung. In seinen bei den Werken „Gedicht über die Verheerung Lissabons“ (1756) und „Candide oder der Optimismus“ (1759) kriti sierte er nicht nur die Behauptung von der sinnhaften Einrichtung der Welt, sondern stellte den optimisti schen Fortschrittsgedanken des Jahrhunderts als Gan zes in Frage. Voltaires Gedicht war so stark gefragt, dass innerhalb des ersten Jahres 20 verschiedene Ausgaben erschienen. Die Grundaussage: Das große Leid darf we der durch spitzfindigen philosophischen Optimismus verklärt noch als Strafgericht interpretiert werden: Ihr Philosophen, die ihr „Alles ist bestens“ schreit: Kommt, schaut euch diese grausigen Ruinen an, All die Trümmer, Fetzen, unseligen Aschenreste, All die Frauen, die Kinder, übereinander gehäuft, [...] Hunderttausend Opfer, von der Erde verschlungen, Blutend, zerrissen und noch atmend Unter ihren Dächern begraben, rettungslos. [...] Wollt ihr da noch sagen: „Das ist die Wirkung Ewiger Gesetze eines allmächtigen guten Gottes?“ Oder sagt ihr [...] „Gott hat sich gerächt, Ihr Tod ist der Preis ihrer Untaten?“ Welche Untaten haben die Kinder begangen, Die an der Mutterbrust zerquetscht verbluten? War Lissabon, das jetzt nicht mehr da ist, verdorbener Als London, als Paris, die in ihrer Lust schwimmen? Lissabon ist zerstört und in Paris wird getanzt. Fassen Sie die Kritik Voltaires an der Interpreta tion des Bebens als göttliche Strafe bzw. an der Theorie von der „besten aller Welten“ zusam men! Rousseau: Kritik an Bauspekulation und Gier Voltaires Philosophenkollege Jean-Jacques Rousseau antwortete nach der Lektüre des Gedichts Voltaire in einem Brief mit dem Titel „Über die Vorsehung“ (1756). Rousseau führt die schrecklichen Auswirkungen des Bebens auf das Verhalten des Menschen zurück. Die Natur selbst richtet seiner Meinung nach nur geringe Schäden an, die meisten schlimmen Folgen werden durch menschliches Fehlverhalten erzeugt. Die ver hängnisvollen Fehler seien in der Bauweise und in ei ner von Geiz bewirkten Verzögerung der Flucht zu se hen: Gestehen Sie mir zum Beispiel, dass nicht die Natur zwanzigtausend Häuser von sechs bis sieben Stock- werken zusammengebaut hatte, und dass wenn die Einwohner dieser großen Stadt gleichmäßiger zerstreut und leichter beherbergt gewesen wären, so würde die Verheerung weit geringer, und vielleicht gar nicht geschehen sein. 2 4 6 8 10 12 14 16 Aufgabe 2 4 6 Maurice Quentin de Latour, Portrait Jean-Jacques Rousseau, Aquarell, Musée Antoine Lécuyer, 1753 Überblick Fundament Leseraum Maturaraum Zusammen fassung Literatur übersicht Grenzenlos Fokus Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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