Literaturräume, Schulbuch [Prüfauflage]
107 Aufklärung (1720–1770) Grenzenlos Spannungsfeld Toleranz Gegen nationale Vorurteile Aufklärung bedeutet auch, nationale Klischees und Vorurteile über andere Völker aufzubrechen und kein Volk über andere zu stellen. So urteilt Lessing: Denn ich bin sehr überzeugt, dass kein Volk in der Welt irgendeine Gabe des Geistes vorzüglich vor an- deren Völkern erhalten habe. Man sagt zwar: der tief- sinnige Engländer, der witzige Franzose. Aber wer hat denn die Teilung gemacht? Die Natur gewiss nicht, die alles unter alle gleich verteilet. Gestützt auf seine Zivilisation, hat Europa über Jahr hunderte anderen Völkern oder ganzen Kontinenten seine Kulturvorstellungen übermittelt. Dieser „Euro zentrismus“ ist im Schwinden, Migrationsbewegun gen zeigen die Vielfalt der Zivilisationen, ihrer Ge wohnheiten und Lebensformen. Die folgenden Textauszüge präsentieren Anstöße zum Thema „Tole ranz in der Begegnung mit anderen Denkformen und Kulturen“. Eine Vielzahl an Lebensformen Der kurze Ausschnitt aus den „Essais“ von Michel de Montaigne (1533–92), einem scharfen Kritiker von Vor urteilen, trägt den Titel „Über die Gewohnheit“. Mon taigne meint, dass die Gewohnheiten uns oft den Blick auf die Absonderlichkeiten unseres eigenen Verhal tens nehmen, […] während wir doch alle Absonderlichkeiten, wenn sie uns von fremden Ländern berichtet wer- den, als augenfällige Scheußlichkeiten empfinden. […] Die Gewohnheit trübt das Auge unsres Urteils. […] Jeder hält innerlich die Meinungen und Sitten in Ehren, die um ihn herum gang und gäbe sind und gutgeheißen werden. In nichts geben uns die Barba- ren mehr Anlass zur Verwunderung als wir ihnen, wie jeder eingestehen müsste, wenn jeder nach Durchsicht der Beispiele aus den neu entdeckten Ländern sich über die eigenen zu beugen und sie an jenen vorurteilsfrei zu messen wüsste. […] Es gibt Völker, bei denen man den König nur über Dritte ansprechen darf, abgesehen von seiner Frau und sei- nen Kindern. Und in ein und demselben Land stel- len die Jungfrauen ihre Schamteile unverhüllt zur Schau, die verheirateten Frauen aber bedecken und verhüllen sie sorgfältig. Damit in gewisser Bezie- hung steht anderswo die Sitte, die Keuschheit bloß im Dienst der Ehe hochzuhalten, während die ledi- gen Mädchen sich nach Belieben hingeben dürfen und es ihnen, wenn geschwängert, freisteht, durch geeignete Arzneien die Leibesfrucht völlig offen ab- treiben zu lassen. […] Hier lebt man von Menschen- fleisch, dort ist es fromme Kindespflicht, den eige- nen Vater umzubringen, wenn er ein bestimmtes Alter erreicht hat; anderswo entscheiden die Väter, während die Kinder noch im Mutterleib sind, wel- che von ihnen behalten und großgezogen werden sollen und welche auszusetzen und zu töten sind; wiederum anderswo leihen die alten Ehemänner ihre Frauen der Jugend, sich ihrer zu bedienen, und noch mal anderswo sind diese, ohne dass es sünd- haft wäre, Gemeinbesitz, ja, in einem Land tragen sie gar als Ehrenzeichen soviel schön gefranste Quasten am Saum ihrer Röcke, wie sie Männern beigewohnt haben. […] ■■ Erläutern Sie, ob Sie, mehr als 400 Jahre nach Montaigne, die Unparteilichkeit seiner Bewertung nachvollziehen können. ■■ Beurteilen Sie für sich die Vor- und Nachteile der Neutralität Montaignes. ■■ Erklären Sie, bei welchen der zitierten Beispielen Sie nicht mehr unparteiisch wären. Wo endet Toleranz? Der nachstehende Auszug aus dem Text „Die Niederla ge des Denkens“ des französischen Denkers Alain Fin kielkraut aus dem Jahr 1987 geht von der Forderung aus, die Vielfalt von kulturellen und religiösen Formen 2 4 6 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 Aufgabe Überblick Fundament Leseraum Maturaraum Zusammen fassung Literatur übersicht Grenzenlos Fokus Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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