Literaturräume, Schulbuch [Prüfauflage]
124 Sturm und Drang (1770–1785/90) es das Lesepublikum gewohnt, moralische Anleitun gen für das eigene Leben zu finden, Nützliches, Lehr haftes und Personen, die zur Identifikation einluden. Goethe jedoch lieferte den Lesern nichts „Nützliches“ und keine moralische Bewertung oder Verurteilung von Werthers Verzweiflungstat. Eineinhalb Jahre zwischen Glück und Verzweiflung 4. Mai 1771: Um einer belastenden Liebesbeziehung zu entkommen, verlegt Werther seinen Wohnsitz aufs Land. Dort zeigt sich ihm die Natur in ihrer ganzen Schönheit, er entdeckt für sich Homer und Klopstock und schwärmt von der Idee einer Natur und Mensch umfassenden Harmonie. 16. Juli: Bei einem Ball lernt er Lotte kennen, er verliebt sich. Bei aller Sympathie und seelischer Verwandtschaft ist Lotte ihrem Verlobten Albert in Treue verbunden. 10. September: Werther, un fähig, seiner Leidenschaft für Lotte Herr zu werden, sucht die räumliche Entfernung von der Geliebten, reist ohne Abschied ab, nimmt eine Stellung bei Hofe an, trifft dort als Bürgerlicher auf Hierarchie und Stan desdünkel. Februar 1772: Lotte und Albert heiraten. 15. März: Werther ist aus einer adeligen Abendgesell schaft verwiesen worden und kündigt seinen Dienst. Juli : Werther kehrt zu Lotte und Albert zurück. Man plant, freundschaftliche Beziehungen aufzunehmen. Doch Werther bleibt ein Außenstehender, hat das Ge fühl, dass niemand Lotte so liebe wie er. Seine Leiden schaft steigert sich, er hat das Gefühl, ein normales, geregeltes Leben nicht mehr ertragen zu können. 21. Dezember: Gegen ihren Willen besucht Werther Lotte, er liest ihr Gedichte vor, verliert seine Beherr schung. Er umarmt und küsst Lotte, wirft sich ihr zu Füßen. Lotte, voll uneingestandener Zuneigung zu Werther, flüchtet ins Nebenzimmer. Werther ist zu tiefst getroffen. 22. Dezember: Unter dem Vorwand, eine Reise antreten zu wollen, leiht sich Werther Al berts Pistolen aus. Er schreibt einen Abschiedsbrief und erschießt sich. 23. Dezember: Tod Werthers. In der Folge finden Sie das Ende des Textes. Werther schreibt Lotte den Abschiedsbrief: […] In diesen Kleidern, Lotte, will ich begraben sein, du hast sie berührt, geheiligt; ich habe auch deinen Vater darum gebeten. Meine Seele schwebt über dem Sarge. Man soll meine Taschen nicht aussuchen. Diese blassrote Schleife, die du am Busen hattest, als ich dich zum ersten Male unter deinen Kindern fand. […] Diese Schleife soll mit mir begraben werden. An meinem Geburtstage schenktest du sie mir! Wie ich das alles verschlang! – Ach, ich dachte nicht, dass mich der Weg hierher führen sollte! – Sei ruhig! ich bitte dich, sei ruhig! Sie sind geladen – Es schlägt zwölfe! So sei es denn! – Lotte! Lotte, lebe wohl! lebe wohl! Ein Nachbar sah den Blitz vom Pulver und hörte den Schuss fallen; da aber alles stille blieb, achtete er nicht weiter drauf. Morgens um sechse tritt der Bediente herein mit dem Lichte. Er findet seinen Herrn an der Erde, die Pistole und Blut. Er ruft, er fasst ihn an; keine Antwort, er röchelt nur noch. Er läuft nach den Ärzten, nach Alberten. Lotte hört die Schelle ziehen, ein Zittern ergreift alle ihre Glieder. Sie weckt ihren Mann, sie stehen auf, der Bediente bringt heulend und stotternd die Nachricht, Lotte sinkt ohnmächtig vor Alberten nieder. Als der Medikus zu dem Unglücklichen kam, fand er ihn an der Erde ohne Rettung, der Puls schlug, die Glieder waren alle gelähmt. Über dem rechten Auge hatte er sich durch den Kopf geschossen, das Gehirn war herausgetrieben. Man ließ ihm zum Überfluss eine Ader am Arme, das Blut lief, er holte noch immer Atem. Aus dem Blut auf der Lehne des Sessels konnte man schließen, er habe sitzend vor dem Schreibtische die Tat vollbracht, dann ist er heruntergesunken, hat sich konvulsivisch 1 um den Stuhl herumgewälzt. Er lag gegen das Fenster entkräftet auf dem Rücken, war in völliger Kleidung, gestiefelt, im blauen Frack mit gelber Weste. […] „Emilia Galotti“ lag auf dem Pulte aufgeschlagen. Von Alberts Bestürzung, von Lottens Jammer lasst mich nichts sagen. […] Um zwölfe mittags starb er. Die Gegenwart des Amtmannes und seine Anstalten tuschten einen Auflauf. Nachts gegen eilfe ließ er ihn an die Stätte begraben, die er sich erwählt hatte. […] Man fürchtete für Lottens Leben. Handwerker trugen ihn. Kein Geistlicher hat ihn begleitet. Tony Johannot, Werther wird tot aufgefunden, Radierung, 1845 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 1 krampfhaft zuckend Überblick Fundament Leseraum Maturaraum Zusammen fassung Literatur übersicht Grenzenlos Fokus Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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