Literaturräume, Schulbuch [Prüfauflage]

273 Symbolismus, Impressionismus, Fin de Siècle, Wiener Moderne (1890–1920) eindeutig auflösbarer Rest bleibt allerdings mit Si­ cherheit. Es handelt sich dabei um die erste der drei „Terzinen über Vergänglichkeit“. Noch spür ich ihren Atem auf den Wangen: Wie kann das sein, dass diese nahen Tage Fort sind, für immer fort, und ganz vergangen? Dies ist ein Ding, das keiner voll aussinnt, Und viel zu grauenvoll, als dass man klage: Dass alles gleitet und vorüberrinnt. Und dass mein eignes Ich, durch nichts gehemmt, Herüberglitt aus einem kleinen Kind Mir wie ein Hund unheimlich stumm und fremd. Dann: dass ich auch vor hundert Jahren war Und meine Ahnen, die im Totenhemd, Mit mir verwandt sind wie mein eignes Haar, So eins mit mir als wie mein eignes Haar. ■■ Bestimmen Sie das Versmaß der Terzine, deren Strophenzahl beliebig ist, die aber meist mit einem einzelnen Schlussvers endet. Untersuchen Sie das Reimschema und analysieren Sie dessen Funktion. ■■ Untersuchen Sie, in welchen Strophen sich folgende Inhalte finden: –– Erinnerung an eine angenehme Zeit in Gegenwart einer geliebten Person; –– Schock durch das plötzliche Aufhören einer Situation, die eben noch war, nicht mehr ist und nicht mehr so sein wird; –– Einsicht, dass Vergänglichkeit eine Grundbe­ dingung des Lebens ist; –– Fremdheit gegenüber sich selbst und seinen früheren Lebensphasen. Der „Chandos-Brief“ – Hofmannsthals Sprachskepsis Wer so wie Hofmannsthal in der Sprache lebt, der kann auch zum Skeptiker der Sprache werden. Denn er ist sensibel gegenüber der Sprache, kann ihr Scheitern in der Kommunikation und auch den eventuellen Miss­ brauch der Sprache leichter spüren als andere. 1902 veröffentlicht Hofmannsthal eine kleine Schrift, die unter dem Namen „Chandos-Brief“ bekannt ist. Lord Chandos, ein fiktiver englischer Autor, versucht darin sein literarisches Verstummen zu erklären. Aber nicht nur literarisch schweigt Chandos. Es ist ihm überhaupt die Fähigkeit verloren gegangen, „über irgendetwas zusammenhängend zu denken oder zu sprechen“ . Die Sprache selbst ist ihm zum Problem geworden. Sie kann die Wirklichkeit nicht mehr eindeutig wiederge­ ben. Abstrakte Begriffe erscheinen als unklar, Urteile als willkürlich. Zuerst wurde es mir allmählich unmöglich, ein höheres oder allgemeineres Thema zu besprechen und dabei jene Worte in den Mund zu nehmen, deren sich doch alle Menschen ohne Bedenken geläufig zu bedienen pflegen. Ich empfand ein unerklärliches Unbehagen, die Worte „Geist“, „Seele“ oder „Körper“ nur auszusprechen. Ich fand es innerlich unmöglich, über die Angelegenheiten des Hofes, die Vorkommnisse im Parlament oder was Sie sonst wollen, ein Urteil herauszubringen. Und dies nicht etwa aus Rücksichten irgendwelcher Art, […] sondern die abstrakten Worte, deren sich doch die Zunge naturgemäß bedienen muss, um irgendwel- ches Urteil an den Tag zu geben, zerfielen mir im Munde wie modrige Pilze. […] Allmählich aber breitete sich diese Anfechtung aus wie ein um sich fressender Rost. Es wurden mir auch im familiären und hausbackenen Gespräch alle die Urteile, die leichthin und mit schlafwandelnder Sicherheit abgegeben zu werden pflegen, so bedenklich, dass ich aufhören musste, an solchen Gesprächen irgend teilzunehmen. ■■ Beschreiben Sie die Etappen der Sprachkrise des Lords. ■■ Erläutern Sie, ob es für Sie zumindest dann und wann Situationen gibt, in denen Ihnen „die Worte fehlen“. 2 4 6 8 10 12 Aufgabe 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 Aufgabe Überblick Fundament Leseraum Maturaraum Zusammen­ fassung Literatur­ übersicht Grenzenlos Fokus Nur zu Prüfzweck n – Eigentum des Verlags öbv

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