Literaturräume, Schulbuch [Prüfauflage]
274 Symbolismus, Impressionismus, Fin de Siècle, Wiener Moderne (1890–1920) 3 „Verse sind keine Gefühle – sie sind Beobachtungen.“ Rainer Maria Rilke: „Neue Gedichte“ (1907/08) und „Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“ (1910) Vom Welterfolg „Cornet“ zu den „Neuen Gedichten“ Um die Jahrhundertwende bildet sich zum Zentrum Wien ein zweiter Brennpunkt der deutschsprachigen Literatur der Habsburgermonarchie, nämlich Prag. Mit Max Brod, Franz Kafka, Franz Werfel, Rainer Maria Ril ke erreicht die Stadt literarische Geltung bis in unsere Epoche hinein. Der erste große Erfolg Rilkes ist die ly rische Erzählung „Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke“ (1899). Ein junger österreichi scher Offizier der Türkenkriege aus der Familie Rilkes reitet in den Schlachtentod. Soldaten der beiden Welt kriege zogen, widersinnig genug, mit dem Buch über den Heldentod in die Kriege. Erschienen war der Band als Nummer 1 der für die Literatur des Fin de Siècle wichtigen „Insel-Bücherei“. Bis heute ist er in mehr als 1,3 Millionen Exemplaren verkauft worden. Die „Neuen Gedichte“ 1905 wird Rilke Sekretär des Bildhauers Auguste Rodin in Paris. Dort entsteht der Großteil der „Neuen Gedich te“. Nicht Gefühle oder Empfindungen sind ihr Thema, sondern genaue Beobachtungen von Menschen, Tie ren, Gegenständen des Alltags in und um Paris. Des halb nennt man sie auch „Dinggedichte“. Ein frühes „Dinggedicht“ haben Sie kennen gelernt, wenn Sie in diesem Buch den Fokus zur Epoche des Realismus durchgearbeitet haben, nämlich C. F. Meyers Text „Der römische Brunnen“. Mit Sensibilität filtert Rilke das für diese „Dinge“ Wesentliche heraus, um ihr „wahres We sen“ zu ergründen: am Fragment einer antiken griechi schen Statue, an einer Kathedrale, einer Erblindenden, einem Bettler, Schwan, einer Gazelle, an Flamingos, einem Park im Regen, einem Panther im Pariser Tier garten. „Der Panther“ und „Die Erblindende“ sind zwei berühmte Beispiele für Rilkes Lyrik. Der Panther Im Jardin des Plantes, Paris Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe so müd geworden, dass er nichts mehr hält. Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe und hinter tausend Stäben keine Welt. Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte, der sich im allerkleinsten Kreise dreht, ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte, in der betäubt ein großer Wille steht. Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille sich lautlos auf –. Dann geht ein Bild hinein, geht durch der Glieder angespannte Stille – und hört im Herzen auf zu sein. Die Erblindende Sie saß so wie die anderen beim Tee. Mir war zuerst, als ob sie ihre Tasse ein wenig anders als die andern fasse. Sie lächelte einmal. Es tat fast weh. Und als man schließlich sich erhob und sprach und langsam und wie es der Zufall brachte durch viele Zimmer ging (man sprach und lachte), da sah ich sie. Sie ging den andern nach, verhalten, so wie eine, welche gleich wird singen müssen und vor vielen Leuten; auf ihren hellen Augen die sich freuten war Licht von außen wie auf einem Teich. Sie folgte langsam und sie brauchte lang als wäre etwas noch nicht überstiegen; und doch: als ob, nach einem Übergang, sie nicht mehr gehen würde, sondern fliegen. Erstausgabe von Rainer Maria Rilkes „Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke“, Insel-Bücherei Nr. 1, 1912 2 4 6 8 10 12 2 4 6 8 10 12 14 16 Überblick Fundament Leseraum Maturaraum Zusammen fassung Literatur übersicht Grenzenlos Fokus Nur zu Prüfzwecken – Eige tum des Verlags öbv
Made with FlippingBook
RkJQdWJsaXNoZXIy ODE3MDE=