Literaturräume, Schulbuch [Prüfauflage]

311 Expressionismus/Dadaismus (1910–1920/1925) ähnliche Veränderungen festgestellt: Über die Le- bensspanne hinweg nehmen Zuverlässigkeit, Um- gänglichkeit und emotionale Stabilität zu. SPIEGEL: Handelt es sich um einen biologischen Ef- fekt? Staudinger: Nein, das wäre ein falscher Schluss. Nur etwa die Hälfte der Persönlichkeitsunterschiede ist auf genetische Unterschiede zurückzuführen. Die an- dere Hälfte kommt durch Unterschiede in den Ent- wicklungsumwelten im Verlauf des Lebens zustande. Wenn sich mit der Zeit scheinbar wie von selbst et- was verändert, hat das mit den Aufgaben zu tun, die wir zu bewältigen haben: Mit dem Eintritt ins Berufs- leben etwa wird erwartet, dass wir verlässlich sind, jeden Morgen erscheinen, die Dinge auch tun, die wir versprechen. Dadurch wird man automatisch zuver- lässiger. Das ist eine Art anthropologische Grund- konstante: Entwicklungen, die immer stattfinden, wenn Menschen in einer Gruppe zusammenleben und sich Regeln des Zusammenlebens geben. Genau- so übrigens wie der eher nachteilige Aspekt der Per- sönlichkeitsentwicklung – die Offenheit für neue Er- fahrungen nimmt ab dem frühen mittleren Erwach- senenalter ab, ab etwa 40 Jahren. SPIEGEL: Das ist unabwendbar? Staudinger: Das dachte man lange. Man ging davon aus, der Mensch habe irgendwann genug gesehen und erlebt und richte sich ein in dem, was er schon kennt. Aber wir konnten in einer quasi experimentel- len Studie zeigen, dass sich die Offenheit auch bei Er- wachsenen wieder steigern lässt. SPIEGEL: Bei jedem? Staudinger: Nicht bei jedem gleich gut. Menschen, die sich Veränderungen selbst zuschreiben, tun sich leichter damit. Sie brauchen außerdem eine neue Aufgabe, Anreize, diese zu bewältigen, und die not- wendigen Kompetenzen dafür. SPIEGEL: Die Menschen müssen also das Gefühl ha- ben, ihr Schicksal selbst in der Hand zu haben? Staudinger: Genau. Die sogenannte internale Kon­ trollüberzeugung ist wichtig, damit man sich neuen Anforderungen nicht ausgeliefert fühlt. […] SPIEGEL: Wenn sich die Menschen ihr ganzes Leben lang weiterentwickeln: Finden sie mit den Jahren dann mehr zu sich? Werden sie glücklicher? Staudinger: Das ist natürlich nicht garantiert, aber wer sich weiterentwickelt, hat wenigstens die Chance dazu. Interessant ist dann allerdings die Frage, was man unter „glücklicher“ versteht. In der Persönlich- keitsentwicklung gibt es zwei positive Wege. Den ei- nen Weg nenne ich den Wohlbefindensweg, der an- dere ist der Weisheitsweg. Meist sind wir auf dem Wohlbefindensweg: Wir konzentrieren uns darauf, dass es uns und den Personen, die uns wichtig sind, gutgeht. Das führt häufig dazu, dass man das Erreich- te erhalten möchte und eher nicht das Risiko eingeht, durch Veränderung das Glück aufs Spiel zu setzen. SPIEGEL: Menschen auf dem Weisheitsweg sind risi- kofreudiger? Staudinger: Das gehört dazu. Auf dem Weisheitsweg geht es darum, das große Ganze zu verstehen und zum Wohle aller weiterzuentwickeln. Die Zielsetzun- gen dieser Menschen gehen über das Wohl der eige- nen Person und des eigenen Umfelds und auch über die Gegenwart hinaus. […] SPIEGEL: Was sind die Gründe, sich auf die Suche nach dem höheren Ziel im Leben zu machen? Staudinger: Meist sind das Hindernisse. Wenn Men- schen durch kritische Lebensereignisse angestoßen werden, über sich selbst und die Welt nachzudenken, dann gelangen sie mit höherer Wahrscheinlichkeit zumindest eine Zeit lang auf den Weisheitsweg. […] Wenn es mir gutgeht, gibt es keinen Anlass, etwas zu ändern. Wieso dann noch über dieses Ziel hinaus denken? Verharrungstendenzen haben ihre eigene, gute Logik. Deshalb ist es mir wichtig, den Wohlbe- findensweg nicht als den schlechteren Lebensweg zu sehen. Aber es ist gut zu erkennen, dass es den Weis- heitsweg auch gibt und dass beide Wege nicht iden- tisch sind. Quelle: http://www.spiegel.de/karriere/persoenlichkeitsentwicklung-wi e-sich-der-mensch-mit-der-zeit-veraendert-a-915309.html, 29.08.2013; abgerufen 22.03.2019. 30 35 40 45 50 55 60 65 70 75 80 85 90 95 100 105 Überblick Fundament Leseraum Maturaraum Zusammen­ fassung Literatur­ übersicht Grenzenlos Fokus Nur zu Prüfzweck n – Eigentum des Verlags öbv

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