Literaturräume, Schulbuch [Prüfauflage]

314 Literatur zwischen 1925 und 1945 Thomas Mann: Deutsche Ansprache. Ein Appell an die Vernunft (1930) Eine neue Seelenlage der Menschheit, die mit […] Freiheit, Gerechtigkeit, Bildung, Optimismus, Fortschrittsglaube, nichts mehr zu schaffen haben sollte, wurde proklamiert und drückte sich […] als Abkehr vom Vernunftglauben […] aus. […] Ist nun, frage ich, […] das Wunschbild einer primitiven, blutreinen, herzens- und verstandesschlichten, hackenzusammenschlagenden, blauäugig gehorsa- men und strammen Biederkeit […] zu verwirklichen möglich in einem alten, reifen, viel erfahrenen und hochbedürftigen Kulturvolk, das geistige und seelische Abenteuer hinter sich hat wie das deutsche, das eine weltbürgerliche und hohe Klassik, die tiefste und raffinierteste Romantik, Goethe, Schopenhauer, Nietzsche […] erlebt hat und im Blute trägt? […] Die Würde eines Volkes wie des unsrigen kann nicht die der Einfalt, kann nur die Würde des Wissens und des Geistes sein, und die weist den Veitstanz 1 des Fanatismus von sich. Gottfried Benn: Rundfunkrede an die Emigranten (Mai 1933) Verstehen Sie doch endlich […], dass es sich bei den Vorgängen in Deutschland gar nicht um politische Kniffe handelt, […] sondern es handelt sich um das Hervortreten eines neuen biologischen Typs. […] Ein Volk will sich züchten. […] Wollen Sie […] endlich doch verstehen, es handelt sich hier gar nicht um Regierungsformen, sondern um eine neue Vision von der Geburt des Menschen, vielleicht um eine alte, vielleicht um die letzte großartige Konzeption der weißen Rasse […]. Erklären Sie, welche Begriffe Mann einander gegenüberstellt, um einerseits das aufkläreri­ sche Streben nach Vernunft, andererseits die dumpfe, humanitätsfeindliche Ideologie des Nationalsozialismus zu beschreiben. ■■ Stellen Sie fest, welche Adjektive und Nomen in Benns Text den „neuen“, auf Vernunft, Individualität und Persönlichkeit verzichten­ den Menschentyp der NS-Ideologie charakte­ risieren. ■■ Bestimmen Sie, auf welche geistigen und literarischen „Kronzeugen“ Mann verweist, um den Deutschen ihre humanistische Denktradition bewusst zu machen. ■■ Untersuchen Sie, welche Wortwahl Benns damalige Nähe zur NS-Ideologie besonders deutlich macht. Ein 13-Jähriger erlebt die Massenhysterie in Wien und schreibt als 37-Jähriger ein Gedicht darüber Die irrationale Atmosphäre, welche die Ideologie des Nationalsozialismus zu erzeugen versuchte, zeigte sich besonders bei Massenveranstaltungen. Ernst Jandl beschreibt diese Emotionalisierung in seinem Gedicht „wien: heldenplatz“ (1962). Es bezieht sich auf den Jubel, mit dem nach der Annexion Österreichs durch NS-Deutschland Tausende am 15. März 1938 die Rede Hitlers auf dem Wiener Heldenplatz verfolgten. Jandl erlebte als Dreizehnjähriger diese Massenemo­ tion mit. Ernst Jandl: wien: heldenplatz der ganze heldenplatz zirka versaggerte in maschenhaftem männchenmeere drunter auch frauen die ans maskelknie zu heften heftig sich versuchten, hoffensdick und brüllzten wesentlich. verwogener stirnscheitelunterschwang nach nöten nördlich, kechelte mit zu-nummernder aufs bluten feilzer stimme hinsensend sämmertliche eigenwäscher. pirsch! döppelte der gottelbock von Sa-Atz zu Sa-Atz mit hünig sprenkem stimmstummel balzerig würmelte es im männchensee und den weibern ward so pfingstig ums heil zumahn: wenn ein knie-ender sie hirschelte. 2 4 6 8 10 12 14 16 18 1 Veitstanz: zuckende, unkontrollierte Bewegungen aufgrund psychischer Störungen 2 4 6 8 10 Aufgabe 2 4 6 8 10 12 14 Überblick Fundament Leseraum Maturaraum Zusammen­ fassung Literatur­ übersicht Grenzenlos Fokus Nur zu Prüfzwecken – Ei entum des Verlags öbv

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