Literaturräume, Schulbuch [Prüfauflage]

330 Literatur zwischen 1925 und 1945 7 „Es war nichts bewiesen und nichts weggeschafft.“ Robert Musil: „Drei Frauen“ (1924) Die Portugiesin Drei Erzählungen enthält der Band „Drei Frauen“. Sie tragen jeweils den Titel der weiblichen Hauptfigur. „Grigia“, eine Bäuerin, „Die Portugiesin“, eine Adelige, und „Tonka“, eine Verkäuferin, werden den mit ihnen verbundenen Männern zum Schicksal. Vorgestellt wird Ihnen in der Folge die im Mittelalter spielende Erzäh­ lung „Die Portugiesin“. Vom „pfaublauen“ Meer zur „Hühnerstallburg“ Der Mann ist ein rauer Ritter aus dem Geschlecht de­ rer von Ketten. Seine Burg liegt auf einer „fast freiste- henden lotrechten Wand“ in einem Tal zwischen Brixen und Trient. „Fünfhundert Fuß unter ihr tollte ein kleiner wilder Fluss so laut, dass man eine Kirchenglocke im selben Raum nicht gehört hätte, sobald man den Kopf aus dem Fenster bog.“ Die Ketten sind „bös wie Messer […], die gleich tief schneiden. Sie wurden nie rot vor Zorn oder rosig vor Freude, sondern sie wurden dunkel im Zorn und in der Freude strahlten sie wie Gold […].“ Ihre Sitte ist es, sich nicht mit dem Adel der Gegend zu verschwägern, um in ihren Kämpfen und Ent­ scheidungen ungebunden zu sein. Sie holen ihre Frau­ en von weit her. Ihre „Frauen waren schön, weil sie schöne Söhne wollten“ . Die Frau dieses Herrn von Ket­ ten stammt aus dem Land des „pfaublauen Meeres“ . Von dort zieht sie im Hochzeitszug in die Heimat des Mannes. Sie hatte erwartet, in ein Land zu kommen, „das voll Unerwartetem war, wie die Sehne eines ge- spannten Bogens; aber da sie das Geheimnis sah, fand sie es über Erwarten hässlich und mochte fliehn. Wie aus Hühnerställen zusammengefügt war die Burg. Stein auf Fels getürmt. Schwindelnde Wände, an denen der Moder wuchs.“ Die alte Fehde und die Fliege Seit Jahrzehnten liegen die Ketten in Fehde mit den Bischöfen von Trient. Kurz vor der Ankunft in der Burg kommt die Nachricht, der Kampf gegen den Bischof sei in eine entscheidende Phase eingetreten. Ketten bringt die Portugiesin in die Burg. „Zwei Tage später saß er wieder im Sattel. Und elf Jahre später tat er es noch. […] Er wurde oftmals leicht verwundet, aber er war nie länger als zweimal zwölf Stunden zu Hause. […] Er kannte seine zwei Kinder kaum, die sie ihm ge- boren hatte.“ Dann stirbt der Bischof von Trient. Das Domkapitel beendet die Fehde. Der Herr von Ketten hat gesiegt, er reitet nach Hause. Da stach ihn, als er heimritt, eine Fliege. […] Als er am Morgen aufs Pferd steigen wollte, fiel er hin vor Schwäche. Arm und Schulter waren aufgequollen, er hatte sie in den Harnisch gepresst und musste sich wieder ausschnallen lassen; wäh- rend er stand und es geschehen ließ, befiel ihn ein Schüttelfrost, wie er solchen noch nie gesehen; seine Muskeln zuckten und tanzten so, dass er die eine Hand nicht zur andern bringen konnte, und die halb aufgeschnallten Eisenteile klapperten wie eine losgerissene Dachrinne im Sturm. Er fühlte, dass das schwankhaft war, und lachte mit grimmigem Kopf über sein Geklapper; aber in den Beinen war er schwach wie ein Knabe. […] Dieses Fieber, wie eine weite brennende Grasfläche, dauerte Wochen. Der Kranke schmolz in seinem Feuer täglich mehr zusammen, aber auch die bösen Säfte schienen darin verzehrt und verdampft zu werden. Mehr wusste selbst der berühmte Arzt davon nicht zu sagen, und nur die Portugiesin brachte außerdem noch geheime Zeichen an Tür und Bett an. Als eines Tages vom Herrn von Ketten nicht mehr übrig war als eine Form voll weicher heißer Asche, sank plötzlich das Fieber um eine tiefe Stufe hinunter und glomm dort bloß noch sanft und ruhig. […] Dann kam der Tag, wo er mit einemmal wusste, dass es der letzte sein würde, wenn er nicht allen Willen zusammennahm, um leben zu bleiben, und das war der Tag, an dessen Abend das Fieber sank. Als er diese erste Stufe der Gesundung unter sich fühlte, ließ er sich täglich auf den kleinen grünen Fleck tragen, der die Felsnase überzog, die mauerlos in die Luft sprang. In seine Tücher gewickelt, lag er dort in der Sonne. Schlief, wachte, wusste nicht, was von beidem er tat. […] Als er wieder einmal dort erwach- te, war der Jugendfreund da. Er stand neben der Portugiesin und war aus ihrer Heimat gekommen; hier im Norden sah er ihr ähnlich. Er grüßte mit edlem Anstand und sprach Worte, die nach dem Ausdruck seiner Mienen voll großer Liebenswürdig- keit sein mussten, indes der Ketten wie ein Hund im Gras lag und sich schämte. 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 Überblick Fundament Leseraum Maturaraum Zusammen­ fassung Literatur­ übersicht Grenzenlos Fokus Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

RkJQdWJsaXNoZXIy ODE3MDE=