Literaturräume, Schulbuch [Prüfauflage]
332 Literatur zwischen 1925 und 1945 hineingreifen konnten. Plötzlich brach ein Stein unter dem Fuß weg; der Ruck schoss in die Sehnen, dann ins Herz. Ketten horchte; es schien ohne Ende zu dauern, bevor der Stein ins Wasser schlug; er musste mindestens ein Drittel der Wand schon unter sich haben. Da wachte er, so schien es deutlich, auf und wusste, was er getan hatte. Unten ankommen konnte nur ein Toter, und die Wand hinauf der Teufel. Er tastete suchend über sich. Bei jedem Griff hing das Leben in den zehn Riemchen der Finger- sehnen; Schweiß trat aus der Stirn, Hitze flog im Körper, die Nerven wurden wie steinerne Fäden: aber, seltsam zu fühlen, begannen bei diesem Kampf mit dem Tod Kraft und Gesundheit in die Glieder zu fließen, als kehrten sie von außen wieder in den Körper zurück. Und das Unwahrscheinliche gelang; noch musste oben einem Überhang nach der Seite ausgewichen sein; dann schlang sich der Arm in ein Fenster. Es wäre wohl anders, als bei diesem Fenster emporzutauchen, auch gar nicht möglich gewesen; aber er wusste, wo er war; er schwang sich hinein, saß auf der Brüstung und ließ die Beine ins Zimmer hängen. Mit der Kraft war die Wildheit wiederge- kehrt. Er atmete sich aus. Seinen Dolch an der Seite hatte er nicht verloren. Es kam ihm vor, dass das Bett leer sei. Aber er wartete, bis sein Herz und seine Lungen völlig ruhig seien. Es kam ihm dabei immer deutlicher vor, dass er in dem Zimmer allein war. Er schlich zum Bett: es hatte in dieser Nacht niemand darin gelegen. Der Herr von Ketten schlich durch Zimmer, Gänge, Türen, die keiner zum erstenmal findet, der nicht geführt ist, vor das Schlafgemach seiner Frau. Er lauschte und wartete, aber kein Flüstern verriet sich. Er glitt hinein; die Portugiesin atmete sanft im Schlaf; er bückte sich in dunkle Ecken, tastete an Wänden und als er sich wieder aus dem Zimmer drückte, hätte er beinahe gesungen vor Freude, die an seinem Unglauben rüttelte. Er stöberte durch das Schloss, aber schon krachten die Dielen und Fliesen unter seinem Tritt, als suchte er eine freudige Überraschung. Im Hof rief ihn ein Knecht an, wer er sei. Er fragte nach dem Gast. Fortgeritten, meldete der Knecht, wie der Mond heraufkam. Der Herr von Ketten setzte sich auf einen Stapel halbentrindeter Hölzer, und die Wache wunderte sich, wie lang er saß. Plötzlich packte ihn die Gewissheit an, wenn er jetzt das Zimmer der Por- tugiesin wieder betrete, werde sie nicht mehr da sein. Er pochte heftig und trat ein; die junge Frau fuhr auf, als hätte sie im Traum darauf gewartet, und sah ihn angekleidet vor sich stehn, so wie er fortgegangen war. Es war nichts bewiesen und nichts weggeschafft, aber sie fragte nicht, und er hätte nichts fragen können. ■■ Erläutern Sie, weshalb alle drei Personen die Katze als Symbol für sich selbst sehen. ■■ Fassen Sie das Geschehen des Ausschnitts zusammen. ■■ Bestimmen Sie die Stellen, an denen der Autor die Spannung des Anstiegs und die Spannung der Entdeckung oder Nichtentde ckung von Portugiesin und Portugiesen sprachlich besonders verstärkt. ■■ Bestimmen Sie, bei wessen Zimmer Ketten die Burg erreicht. ■■ Diskutieren Sie, ob es Ketten gelingt, so etwas wie eine objektive Wahrheit zu finden, und wer allein um das tatsächlich Geschehe ne weiß. 8 „Ein Exterritorialer war ich unter den Lebenden.“ Joseph Roth: „Die Kapuzinergruft“ (1938) Zweimal geht Österreich unter Joseph Roths „Kapuzinergruft“ beginnt unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg und endet mit der Annexion Ös terreichs durch Hitler-Deutschland. Die Hauptfigur, Leutnant Franz Ferdinand von Trotta, aus dessen Per spektive der Roman erzählt wird, erlebt zweimal den Untergang seines Österreich. Er ist der letzte Vertreter der altösterreichischen Familie Trotta, deren Schicksal 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 66 68 70 72 74 76 78 80 Aufgabe Überblick Fundament Leseraum Maturaraum Zusammen fassung Literatur übersicht Grenzenlos Fokus Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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