Literaturräume, Schulbuch [Prüfauflage]
336 Literatur zwischen 1925 und 1945 geben, es genügt zu verbreiten, wer umkommen soll, damit eine Masse sich bildet. Die Konzentra- tion aufs Töten ist eine besonderer Art und an Intensität durch keine andere zu übertreffen. Jeder will daran teilhaben, jeder schlägt zu. Um seinen Schlag führen zu können, drängt sich jeder in die nächste Nähe des Opfers. Wenn er nicht treffen kann, will er sehen, wie es von den anderen getroffen wird. […] Ein wichtiger Grund für das rapide Anwachsen der Hetzmasse ist die Gefahrlo- sigkeit des Unternehmens. Es ist gefahrlos, denn die Überlegenheit auf Seiten der Masse ist enorm. Das Opfer kann ihnen nichts anhaben. Es flieht oder ist gefesselt. Es kann nicht zuschlagen, in seiner Wehrlosigkeit ist es nur noch Opfer. Es ist aber auch für seinen Untergang freigegeben worden. Es ist zu seinem Schicksal bestimmt, für seinen Tod hat niemand eine Sanktion zu befürch- ten. […] Es ist ein so leichtes Unternehmen und es spielt sich so rasch ab, dass man sich beeilen muss, um zurechtzukommen. Unter den Todesarten, die von einer Horde oder von einem Volk gegen den Einzelnen verhängt werden, kann man zwei Hauptformen unterschei- den: die eine ist die des Ausstoßens. Der Einzelne wird ausgesetzt, wo er wehrlos wilden Tieren ausgeliefert ist oder wo er verhungert. Die Men- schen, zu denen er früher gehört hat, haben nichts mehr mit ihm zu tun; sie dürfen ihn nicht beher- bergen und ihm keine Nahrung reichen. […] Die andere Form ist die des Zusammen-Tötens. Man führt den Verurteilten aufs Feld hinaus und steinigt ihn. Jeder hat am Töten teil; von den Steinen aller getroffen, bricht der Schuldige zusammen. Es ist niemand zum Hinrichter delegiert, die ganze Gemeinde tötet. […] Der Abscheu vor dem Zusammen-Töten ist ganz modernen Datums. Man überschätze ihn nicht. Auch heute nimmt jeder an öffentlichen Hinrich- tungen teil, durch die Zeitung. Man hat es nur, wie alles, viel bequemer. Man sitzt in Ruhe bei sich und kann unter hundert Einzelheiten bei denen verweilen, die einen besonders erregen. […] [N]icht die leiseste Spur von Mitschuld trübt den Genuss. Man ist für nichts verantwortlich, nicht fürs Urteil, nicht für den Augenzeugen, nicht für seinen Bericht und auch nicht für die Zeitung, die den Bericht gedruckt hat. […] Im Publikum der Zeitungsleser hat sich eine gemilderte, aber durch ihre Distanz von den Ereignissen um so verantwor- tungslosere Hetzmasse am Leben erhalten, man wäre versucht zu sagen, ihre verächtlichste und zugleich stabilste Form. ■■ Untersuchen Sie, was das Ziel der Hetzmasse ist, welche Gründe Canetti für das rasche Wachsen von Hetzmassen sieht und wie sich der Einzelne in Hetzmassen verhält. ■■ Erläutern Sie, welche politischen Ideologien auf Hetzmassen setz(t)en. ■■ Erläutern Sie, welche Formen der Gewalt die Hetzmasse ausübt. ■■ Stellen Sie dar, welche Parallele der Text zwischen Hetzmasse und Zeitungslektüre sieht. ■■ Diskutieren Sie über Zustimmung bzw. Ablehnung dieser These Canettis. 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 Aufgabe Überblick Fundament Leseraum Maturaraum Zusammen fassung Literatur übersicht Grenzenlos Fokus Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Ve lags öbv
Made with FlippingBook
RkJQdWJsaXNoZXIy ODE3MDE=