Literaturräume, Schulbuch [Prüfauflage]
338 Literatur zwischen 1925 und 1945 Zunächst waren europäische Länder das Fluchtziel. Mit dem Ausbruch des Krieges 1939 wurde Europa zu unsicher, neue Zielländer wurden die Staaten Nord- und Südamerikas. „Damals hatten alle nur einen Wunsch: abfahren. Alle hatten nur eine einzige Furcht: zurückbleiben. Fort, nur fort aus diesem zusammenge- brochenen Land, fort aus diesem zusammengebroche- nen Leben!“ , schreibt Anna Seghers stellvertretend in ihrem Roman „Transit“, den sie 1937 vor ihrer weiteren Flucht nach Mexiko in Südfrankreich begann. Exil: Entwurzelung, Selbstmord, Tod Manche Autoren traf auf der Flucht der Tod, wie den Philosophen Walter Benjamin beim Versuch, die Grenze des besetzten Frankreich nach Spanien zu überqueren. Manche ertrugen die Fremdheit der Emigration und das Abgeschnittensein von ihrer Sprache und Kultur nicht und begingen im Exil Selbstmord, wie Stefan Zweig (1881–1942) und Kurt Tucholsky (1890-1935). Viele können sich dort, abgeschnitten vom deutschen Sprachraum, mit ihren Werken nicht durchsetzen oder sie nicht einmal veröffentlichen, wie zum Beispiel der Österreicher Albert Drach (1902–95), dessen 1939 ge schriebener Roman „Protokoll gegen Zwetschkenbaum“ erst 1964 publiziert wird und nun als eines der wichtigs ten Werke der Zwischenkriegszeit angesehen wird. Den Schock des Exils analysiert die nach England ge flohene österreichische Autorin Hilde Spiel (1911–90). Hier ein Auszug aus ihrem Band „Das Haus der Spra che“ (1984): Das Exil ist eine Krankheit. Sie erfasst den Geist, das Gemüt, häufig auch den Körper, und sie ist unheilbar oder selten heilbar, nicht einmal durch die Rückkehr ins eigene Land. Zu sehr ist der Emigrant, der Jahre oder Jahrzehnte in der weiten Welt verbracht hat, seinem Ursprung entfremdet, zu tief ist die Kluft, die Ausgewanderte und Daheimgebliebene trennt, um nicht immer wieder, manchmal erst nach geraumer und trügerisch harmonischer Zeit, von neuem aufzureißen. Man ist nirgendwo ganz zu Hause. Die Heimat ist Fremde geworden, und die Fremde nicht Heimat. ■■ Fassen Sie Oskar Maria Grafs Empörung zusammen, analysieren Sie die Begründung seines Protests. ■■ Erläutern Sie, worin Hilde Spiel die große Problematik des Exils sieht. Was fast alle Exilautoren vereinte, war das Bewusst sein, weltweit eine Gegenkultur zu Nazideutschland zu repräsentieren. Die folgenden Texte zeigen bei spielhaft die psychische Situation der Exilautoren. Theodor Kramer (1897–1958) wurde in Niederöster reich geboren und musste 1939 emigrieren. Seine Mut ter wurde im KZ Theresienstadt ermordet. Kramer kehrte 1957 aus dem Exil nach Österreich zurück. In seinem Nachlass fanden sich mehr als 10.000 Gedich te, meist aus der Zeit des Exils. Der Wiener Hans Schmeier (1925–43) musste mit 13 Jahren Österreich verlassen, seine Mutter wurde deportiert und ermor det. 1943 stürzte sich Schmeier in der Emigration vom Dach eines Hauses. Mascha Kaléko wurde als Tochter eines Russen und einer Österreicherin im heutigen Po len geboren. Sie veröffentlichte 1933 ihre ersten Ge dichte, die als unerwünschte Literatur verbrannt wurden, emigrierte 1938 in die USA und übersiedelte 1966 nach Israel. Theodor Kramer Ich bin froh, dass du schon tot bist, Vater Ich bin froh, dass du schon tot bist, Vater, dass du starbst, bevor die Horde kam, die mich schrubben ließ und mir im Prater am Kastanienblust 1 die Freude nahm. Ich bin froh, dass dich zum Spaß kein Bube zerrte je am langen weißen Bart, dass er nicht verwies dich auf die Stube; denn viel auszugehn war deine Art. […] Oft gebeugt schon, doch nicht untertänig, konnt ich retten mich ins fremde Land; buschig ist mein Haar wie deins, doch strähnig schon mit Grau durchsetzt, und taub die Hand, Doch zu rächen, was dir widerfahren hätte können, schreibt sie dies und das; und im Dorf, das ehrte dich nach Jahren, bringt dir, Vater, einst dein Sohn ein Glas. 2 4 6 8 10 12 Aufgabe 2 4 6 8 10 12 14 16 1 Blust: Blühen Überblick Fundament Leseraum Maturaraum Zusammen fassung Literatur übersicht Grenzenlos Fokus Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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