Literaturräume, Schulbuch [Prüfauflage]
362 Literatur zwischen 1945 und 1968 auch die Erzählung „Katz und Maus“ (1961). Sie erzählt die Geschichte des Gymnasiasten Joachim Mahlke, der die Minderwertigkeitsgefühle wegen seines übergro ßen Adamsapfels kompensiert, indem er es im Zwei ten Weltkrieg zum Träger des Eisernen Kreuzes bringt, das er vor den Adamsapfel hängen kann. Der Roman „Hundejahre“ (1963) führt die Themen und Personen von „Blechtrommel“ und „Katz und Maus“ weiter bis in die 50er-Jahre. Alle drei Werke werden aufgrund ihres Hauptschauplatzes als „Danziger Trilogie“ zusammen gefasst. Alles beginnt unter den Röcken der Großmutter „Niemand sollte sein Leben beschreiben, der nicht die Geduld aufbringt, vor dem Datieren der eigenen Exis- tenz wenigstens zur Hälfte seiner Großeltern zu geden- ken“ , meint Oskar. Deshalb gedenkt er zunächst der Großmutter. Und die, Anna Bronski, sitzt im Jahr 1899 am Rande eines Kartoffelackers. Unter ihren vier Rö cken versteckt sich der Brandstifter Joseph Koljaiczek vor den Gendarmen, die ihn verfolgen. Anna Bronski seufzt, während die Polizisten sie nach dem Gesuch ten befragen. Sie seufzt „zwar nur ein bisschen, aber doch laut genug, dass die Uniformierten wissen woll- ten, was es zu seufzen gäbe“ . Sobald sie außer Sicht weite sind, lässt sie einen Priester holen, der sie und Joseph Koljaiczek noch am selben Abend traut. Neun Monate später wird die Tochter Agnes geboren. Agnes wächst heran. Da kommt Jan Bronski nach Danzig. Ag nes, seine Cousine, verliebt sich in den verheirateten Verwandten. Doch im Sommer 1918, während sie im Lazarett arbeitet, lernt sie Alfred Matzerath kennen, der dort gepflegt wird. 1923 findet die Hochzeit von Alfred und Agnes statt. Aber die Ehe stellt für Agnes Matzerath keinen Grund dar, Jan Bronski nicht mehr zu lieben. Oskars Geburt 1924 bringt Agnes Oskar zur Welt: offizieller Vater Al fred – deshalb auch der Name Oskar Matzerath –, höchstwahrscheinlicher Vater Jan Bronski. Oskar rech net sich zu den Säuglingen, „deren geistige Entwick- lung schon bei der Geburt abgeschlossen ist“ , und blickt skeptisch in sein Leben. Sehr beeindruckt ihn bei seiner Geburt, wie ein Falter rettungslos zwischen zwei Glühbirnen hin und her fliegt und dabei eine „Trommelorgie“ veranstaltet. Oskar überkommt dabei der „Wunsch nach Rückkehr in meine embryonale Kopflage“ . Doch es ist zu spät: „Zudem hatte die Heb- amme mich schon abgenabelt; es war nichts mehr zu machen.“ Nur ein Satz fällt ihm positiv auf: „Wenn der kleine Oskar drei Jahre alt ist, soll er eine Blechtrommel bekommen“ , sagt die Mutter bei der Geburt. Oskars Lebensentscheidung An seinem dritten Geburtstag trifft Oskar eine Ent scheidung: Er will auf keinen Fall so werden wie die Erwachsenen. Das heißt, er möchte nicht mehr wach sen. Oskar klettert durch die offen stehende Falltür in den Keller hinunter, legt seine neue Kindertrommel vorsichtig auf den Zementfußboden, steigt dann wie der nach oben, schätzt die Höhe ab und springt mit dem Kopf voran nach unten. Vier Wochen liegt Oskar im Krankenhaus. Oskar bleibt 1 Meter 23. Von nun an kann er leben, ohne durch gesellschaftliche Regeln be grenzt zu sein, und hat es nicht nötig, „von Jahr zu Jahr größere Schuhe und Hosen zu tragen, nur um beweisen zu können, dass etwas im Wachsen sei“ . Aus der Per spektive des Zwergs sieht er mehr als alle anderen, vor allem die schäbigen Seiten, die „Aura des Miefs“ , wie Hans Magnus Enzensberger in seiner Analyse der „Blechtrommel“ formuliert: Nationalsozialismus, Krieg, Verdrängung der Vergangenheit. In einem ist Oskar den anderen überlegen: Wenn ihm die Gemeinheiten zu viel werden, beginnt er endlos zu trommeln und zu schreien, und zwar mit unglaublichen Resultaten. Er kann mit seiner Stimme Glas zersingen. Die Wirkung zeigt sich erstmals in der Praxis des Hausarztes Dr. Hollatz, den Agnes Matzerath regelmäßig wegen ihres nicht mehr wachsenden Sohnes konsultiert. Typisch für den Stil der „Blechtrommel“ ist der häufige Wech sel der Erzählperspektive zwischen der 1. und der 3. Person, sogar innerhalb eines Satzes. Oskar erzählt: Als er mir nach Monaten anlässlich eines Mittwoch- besuches […] meine Trommel nehmen wollte, zerstörte ich ihm den größten Teil seiner Schlangen- und Krötensammlung, auch alles was er an Embryo- nen verschiedenster Herkunft zusammengetragen hatte. Von gefüllten, aber nicht abgedeckten Bier gläsern abgesehen und Mamas Parfumflakon ausgenommen, war es das erste Mal, dass Oskar sich an einer Menge gefüllter und peinlich verschlossener Gläser versuchte. Der Erfolg war einzigartig und für alle Beteiligten, selbst für Mama, die ja mein Verhältnis zum Glas kannte, überwältigend, überra- schend. Gleich mit dem ersten noch sparsam beschnittenen Ton schnitt ich die Vitrine, in der Hollatz all seine ekelhaften Merkwürdigkeiten verwahrte, der Länge und Breite nach auf, ließ 2 4 6 8 10 12 14 16 Überblick Fundament Leseraum Maturaraum Zusammen fassung Literatur übersicht Grenzenlos Fokus Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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