Literaturräume, Schulbuch [Prüfauflage]

364 Literatur zwischen 1945 und 1968 drei Kerlen abwechselnd, und als einer von denen genug hatte, wurde Oskar von meinem recht begabten Trommler an einen schwitzenden, in den Augen leicht geschlitzten, nehmen wir an, Kalmü- cken abgegeben. Während er mich links schon hielt, knöpfte er sich rechts die Hose zu und nahm keinen Anstoß daran, dass sein Vorgänger, mein Trommler, das Gegenteil tat. […] Oskar jedoch, der sich nicht so schnell umstellen konnte, verlegte sich, Ersatz für seine Ameisen suchend, auf das Beobachten mehre- rer platter, graubräunlicher Tiere, die sich auf dem Kragenrand meines Kalmücken ergingen. Gerne hätte ich solch eine Laus gefangen und untersucht […]. Weil ich aber mit einer einzigen Hand den Läusen schlecht beikommen konnte, trachtete ich, das Parteiabzeichen loszuwerden. Und um meine Handlungsweise zu erklären, sagt Oskar: Da der Kalmücke schon mehrere Orden an der Brust hatte, hielt ich jenen mich stechenden und am Läusefangen hindernden Bonbon dem seitwärts von mir stehen- den Matzerath mit immer noch geschlossener Hand hin. Man kann jetzt sagen, das hätte ich nicht tun sollen. Man kann aber auch sagen: Matzerath hätte nicht zuzugreifen brauchen. Er griff zu. Ich war den Bonbon los. Matzerath erschrak nach und nach, als er das Zeichen seiner Partei zwischen den Fingern spürte. Mit nunmehr freien Händen wollte ich nicht Zeuge sein, was Matzerath mit dem Bonbon tat. Zu zerstreut, um den Läusen nachgehen zu können, wollte Oskar sich abermals auf die Ameisen konzen- trieren, bekam aber doch eine rasche Handbewegung Matzeraths mit, sagt jetzt, da ihm nicht einfällt, was er damals dachte: Es wäre vernünftiger gewesen, das bunte runde Ding ruhig in der geschlossenen Hand zu halten. Er aber wollte es loswerden und fand trotz seiner oft erprobten Phantasie als Koch und Dekora- teur des Kolonialwarenladenschaufensters kein anderes Versteck als seine Mundhöhle. Wie wichtig solch eine kurze Handbewegung sein kann! Von der Hand in den Mund, das reichte aus, die beiden Iwans, die links und rechts friedlich neben Maria gesessen hatten, zu erschrecken und von dem Luftschutzbett aufzujagen. Mit Maschinenpistolen standen sie vor Matzeraths Bauch, und jedermann konnte sehen, dass Matzerath versuchte, etwas zu verschlucken. Hätte er doch zuvor wenigstens mit drei Fingern die Nadel des Parteiabzeichens ge- schlossen. Nun würgte er an dem sperrigen Bonbon, lief rot an, bekam dicke Augen, hustete, weinte, lachte und konnte bei all den gleichzeitigen Gemüts- bewegungen die Hände nicht mehr oben behalten. Das jedoch duldeten die Iwans nicht. Sie schrien und wollten wieder seine Handteller sehen. Aber Matze- rath hatte sich vollkommen auf seine Atmungsorga- ne eingestellt. Selbst husten konnte er nicht mehr richtig, geriet aber ins Tanzen und Armeschleudern […] und bewirkte, dass mein Kalmücke, der bisher ruhig und leichtgeschlitzt zugesehen hatte, mich behutsam absetzte, hinter sich langte, etwas in die Waagerechte brachte und aus der Hüfte heraus schoss, ein ganzes Magazin leer schoss, bevor Matzerath ersticken konnte. Was man nicht alles tut, wenn das Schicksal seinen Auftritt hat! Während mein mutmaßlicher Vater die Partei verschluckte und starb, zerdrückte ich, ohne es zu merken oder zu wollen, zwischen den Fingern eine Laus, die ich dem Kalmücken kurz zuvor abgefangen hatte. Matzerath hatte sich quer über die Ameisenstraße fallen lassen. […] Die Ameisen fanden eine veränderte Situation vor, scheuten aber den Umweg nicht, bauten ihre Heerstraße um den gekrümmten Matzerath herum; denn jener aus dem geplatzten Sack rieselnde Zucker hatte […] nichts von seiner Süße verloren. ■■ Fassen Sie die Versuche Alfred Matzeraths zusammen, das „Bonbon“ verschwinden zu lassen, beschreiben Sie die Rolle, die Oskar dabei spielt, und Matzeraths Ende. ■■ Manche Rezensenten des Romans betonten den verstörenden „schwarzen Humor“, die Ironie und den Zynismus Oskars. Untersuchen Sie den Textausschnitt auf diesen Aspekt, bestimmen Sie die Stellen, an denen diese Komponenten sichtbar werden. Ein neuer Anfang? Beim Begräbnis seines Vaters beschließt Oskar, wieder zu wachsen, und wirft die Trommel ins offene Grab. Mit dem Ende des Krieges und des NS-Regimes hofft er, dass eine neue Zeit anbricht. Er möchte mitmachen, sich integrieren. Doch die Desillusionierung folgt bald, weder er selbst noch die anderen ändern sich zum Gu­ ten. Wie die Schelme der Barockliteratur zieht Oskar sich endgültig vor der Welt zurück. Er gesteht einen Mord, den er nicht begangen hat, um als unzurech­ 56 58 60 62 64 66 68 70 72 74 76 78 80 82 84 86 88 90 92 94 96 98 100 102 104 106 108 110 112 114 116 118 120 122 124 126 128 Aufgabe Überblick Fundament Leseraum Maturaraum Zusammen­ fassung Literatur­ übersicht Grenzenlos Fokus Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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