Literaturräume, Schulbuch [Prüfauflage]
366 Literatur zwischen 1945 und 1968 Zeh meines rechten Fußes auf und hielt sie hoch, ihm fast unter die Nase, aber er machte nur eine ärgerliche Bewegung und brachte ein knurriges „Lass das“ zustande. Ich ging achselzuckend in die Diele, nahm seinen Mantel, seinen Hut von der Garderobe. Er stand schon neben mir, ich half ihm, hob die Handschuhe auf, die aus seinem Hut gefallen waren, und gab sie ihm. Er war wieder nahe am Weinen. […] Er sah mich an und flehte stumm, nicht Henriettes Namen zu nennen, und ich nannte Henriettes Namen nicht, obwohl ich vorgehabt hatte, ihn zu fragen, warum er nicht so nett gewesen war, ihr den Schulausflug zur Flak zu verbieten. Ich nickte, und er verstand: Ich würde nicht von Henriette sprechen. Sicher saß er während der Aufsichtsratssitzungen da, kritzelte Männchen aufs Papier und manchmal ein H, manchmal vielleicht sogar ihren vollen Namen: Henriette. Er war nicht schuldig, nur auf eine Weise dumm, die Tragik ausschloss oder vielleicht die Voraussetzung dafür war. Ich wusste es nicht. Er war so fein und zart und silberhaarig, sah so gütig aus und hatte mir nicht einmal ein Almosen geschickt, als ich mit Marie in Köln war. Was machte diesen liebenswürdigen Mann, meinen Vater, so hart und so stark, warum redete er da am Fernsehschirm von gesellschaftlichen Verpflichtungen, von Staatsbe- wusstsein, von Deutschland, sogar von Christentum, an das er doch nach eigenem Geständnis gar nicht glaubte, und zwar so, dass man gezwungen war, ihm zu glauben? Es konnte doch nur das Geld sein, nicht das konkrete, mit dem man Milch kauft und Taxi fährt, sich eine Geliebte hält und ins Kino geht – nur das abstrakte. […] In seinen Augen las ich es – er konnte sein Geld nicht einem Clown geben, der mit Geld nur eins tun würde: es ausgeben, genau das Gegenteil von dem, was man mit Geld tun musste. Und ich wusste, selbst wenn er mir eine Million gegeben hätte, ich hätte sie ausgegeben, und Geld- ausgeben war für ihn gleichbedeutend mit Ver- schwenden. […] Ich gab meinem Vater den Weg frei. Er fing wieder an zu schwitzen und tat mir leid. Ich lief schnell ins Wohnzimmer zurück und holte das schmutzige Taschentuch vom Tisch und steckte es ihm in die Manteltasche. […] „Soll ich dir ein Taxi bestellen?“, fragte ich. „Nein“, sagte er, „ich gehe noch ein bisschen zu Fuß.“ […] Er ging an mir vorbei, ich öffnete die Tür, begleitete ihn bis zum Aufzug und drückte auf den Knopf. ■■ Analysieren Sie das Vokabular, insbesondere die Adjektive, mit dem Hans Schnier seinen Vater beschreibt. ■■ Erklären Sie, weshalb für Schnier an sich belanglose Handlungen des Vaters so wichtig sind. ■■ Bestimmen Sie, welche Gegensätze Schniers Vater beherrschen, welche Ängste und unbewältigten Erlebnisse der Vergangenheit ihn prägen und in welchen unbewussten Handlungen sich diese Vergangenheit zeigt. ■■ Diskutieren Sie, was für Sie „konkretes“ und „abstraktes“ Geld ist. 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 66 68 70 72 74 76 78 80 82 Aufgabe Überblick Fundament Leseraum Maturaraum Zusammen fassung Literatur übersicht Grenzenlos Fokus Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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