Literaturräume, Schulbuch [Prüfauflage]

367 Literatur zwischen 1945 und 1968 9 Zwei große Romane ohne Publikum Gert Ledig: „Vergeltung“ (1956) Hans Lebert: „Die Wolfshaut“ (1960) Gert Ledig: der grauenvolle Luftkrieg Ledigs Roman „Vergeltung“ erregte nur kurz nach Er­ scheinen Aufmerksamkeit. Er schildert eine einzige Stunde eines Bombenangriffs auf eine deutsche Stadt im Juli 1944. In der breiten Öffentlichkeit stieß Ledigs krasse Darstellung von Kriegsereignissen auf Ableh­ nung. Gesellschaft und Politik wollten Positives, Har­ monie, Zukunftsperspektiven und keinen Roman, der das Grauen noch einmal thematisiert. Auch das Thema war manchen zu heikel und politisch nicht unbedingt erwünscht. Zu sehr befürchtete man – und wohl auch mit einer gewissen Berechtigung –, dass die Schilde­ rung des Bombenkrieges gegen deutsche Städte man­ che Leserin bzw. manchen Leser dazu verführen könn­ te, die Bombardements gegen die NS-Gräuel aufzu­ rechnen, diese zu relativieren und die Frage nach der Ursache der Bombardements und des Krieges zu ver­ drängen. Als die Missachtung des Romans bei der da­ maligen Kritik und Leserschaft deutlich geworden war, zog sich Ledig ganz aus der Literatur zurück. 1999 wur­ de „Vergeltung“ neu aufgelegt und von der Literatur­ kritik als „vermutlich einer der besten Romane über den Zweiten Weltkrieg und den Irrsinn des Krieges überhaupt“ gelobt. Hier der Beginn des Romans: Mitteleuropäische Zeit 1301 Lasset die Kindlein zu mir kommen. – Als die erste Bombe fiel, schleuderte der Luftdruck die toten Kinder gegen die Mauer. Sie waren vorges- tern in einem Keller erstickt. Man hatte sie auf den Friedhof gelegt, weil ihre Väter an der Front kämpf- ten und man ihre Mütter erst suchen musste. Man fand nur noch eine. Aber die war unter den Trüm- mern zerquetscht. So sah die Vergeltung aus. Ein kleiner Schuh flog mit der Bombenfontäne in die Luft. Das machte nichts. Er war schon zerrissen. Als die emporgeschleuderte Erde wieder herunterpras- selte, begann das Geheul der Sirenen. Es klang, als beginne ein Orkan. Hunderttausend Menschen spürten ihr Herz. Die Stadt brannte seit drei Tagen, und seitdem heulten die Sirenen regelmäßig zu spät. Es war, als würden sie absichtlich so in Betrieb gesetzt, denn zwischen dem Zerbomben brauchte man Zeit zum Leben. […] Zwei Frauen auf der anderen Seite der Friedhofs- mauer ließen den Handwagen los und rannten über die Straße. Sie dachten, die Friedhofsmauer sei sicher. Darin hatten sie sich geirrt. In der Luft dröhnten plötzlich Motoren. Ein Pfeilregen von Magnesiumstäben bohrte sich zischend in den Asphalt. In der nächsten Sekunde platzten sie auseinander. Wo eben noch Asphalt war, prasselten Flammen. Der Handwagen wurde von der Luftwelle umgeworfen. Die Deichsel flog in den Himmel, aus einer Decke entrollte sich ein Kind. Die Mutter an der Mauer schrie nicht. Sie hatte keine Zeit dazu. Hier war kein Spielplatz für Kinder. Neben der Mutter stand eine Frau und brannte wie eine Fackel. Sie schrie. Die Mutter blickte sie hilflos an, dann brannte sie selbst. Von den Beinen herauf über die Unterschenkel bis zum Leib. Das spürte sie noch, dann schrumpfte sie zusammen. Eine Explosionswel- le barst an der Friedhofsmauer entlang, und in diesem Augenblick brannte auch die Straße. Der Asphalt, die Steine, die Luft. Das geschah beim Friedhof. […] In dieser Stunde oder nach dieser Stunde wurden noch mehr erschlagen. Ein ungebo- renes Kind im Mutterleib von einer Hausmauer. Der französische Kriegsgefangene Jean Pierre von einem Gewehrkolben. Sechs Schüler des Humanistischen Gymnasiums am Flakgeschütz von einem Rohr- krepierer. Ein paar hundert Namenlose auch. Nennenswert war das nicht. In diesen sechzig Minuten wurde zerrissen, zerquetscht, erstickt. Was dann noch übrig blieb, wartete auf morgen. Später behauptete jemand: So schlimm wäre das nicht gewesen. Es blieben immer welche übrig. 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 Überblick Fundament Leseraum Maturaraum Zusammen­ fassung Literatur­ übersicht Grenzenlos Fokus Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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