Literaturräume, Schulbuch [Prüfauflage]
387 Das 5. Faust-Fenster: FAUST UND DER UNTERGANG DEUTSCHLANDS Thomas Mann: „Doktor Faustus“ (1947) Das Ende eines Musikers Im Mai 1943 beginnt der Gymnasiallehrer Dr. Serenus Zeitblom mit der Biografie seines vor drei Jahren ver storbenen Freundes Adrian Leverkühn. Adrian, gebo ren 1885 in einer einfachen Bauernfamilie, zeigt schon früh hohes musikalisches Talent, die Musikerlaufbahn ist vorgezeichnet. Adrian will komponieren. Doch die herkömmlichen kompositorischen Möglichkeiten emp findet er als Zwang. Er überschreitet sie, indem er – wie in der Realität der Komponist Arnold Schönberg – die Zwölftonmusik erfindet. Seine Kompositionen, wie die Symphonie „Wunder des Alls“ und das Oratorium „Apocalypsis cum figuris“ , erregen Aufsehen. Als Höhe punkt seines Schaffens sieht er die Kantate „Dr. Fausti Weheklag“ . Sie soll Beethovens Neunte Sinfonie, für Leverkühn ein Höhepunkt der Musik, übertreffen. Zur Präsentation dieser Komposition, es ist das Jahr 1930, gibt er eine Einladung, setzt sich an den Tisch und lei tet den Abend mit einer Rede ein: „Wisst es also“, sagte der am Tische, „ihr Guten und Frommen, die ihr mit euerer mäßigen Sünd in Gotes“ (wieder verbesserte er sich und sagte „Gottes“, kam aber dann auf die andre Form zurück) „die ihr in Go- tes Gnade und Nachsicht ruhet, denn ich habe es so lange bei mir verdruckt, will’s euch aber nicht länger verhalten, daß ich allbereit seit meinem einundzwan- zigsten Jahr mit dem Satan verheirat bin und habe mit Wissen der Fahr 1 , aus wohlbedachtem Mut, Stolz und Verwegenheit, weil ich in dieser Welt einen Ruhm er- langen wollen, eine Versprechung und Bündnis mit Ihm aufgerichtet, also daß alles, was ich während der Frist von vierundzwanzig Jahren vor mich gebracht, und was die Menschen mit Recht mißtrauisch betrach- tet, nur mit Seiner Hilf zustandkommen, und ist Teu- felswerk, eingegossen vom Engel des Giftes. […] „Merkt es nur“, nahm er seine Rede wieder auf, „son- ders achtbare liebe Freunde, daß ihr’s mit einem Gott- verlassenen und Verzweifelten zu tun habt, dessen Leichnam nicht an geweihten Ort gehört, zu frommen abgestorbenen Christen, sondern auf den Schindwa- sen zu den Kadavern verreckten Viehes. Auf der Bah- re, ich sag es euch zuvor, werdet ihr ihn immer finden auf dem Gesichte liegen, und ob ihr ihn fünfmal um- drehet, er wird doch wieder verkehrt liegen. Denn lange schon […] war meine Seel in Hochmut und Stolz zu dem Satan unterwegs gewesen und stund mein Datum 2 dahin, daß ich nach Ihm trachtete von Jugend auf, weil ihr ja wissen müßt, daß der Mensch zur Seligkeit oder zur Höllen geschaffen und vorbe- stimmt ist, und ich war zur Höllen geboren. […] [Der Teufel] hat mir auch Zeit verkauft, vierundzwanzig unabsehbare Jahr, und sich gegen mir versprochen und verlobt für diese Frist, auch mir Großes verhei- ßen und viel Feuer unter dem Kessel, daß ich fähig sein sollte zumWerk […]. Da aber nun die Zeit ausge- laufen ist, die ich mir einst mit meiner Seele erkauft, hab ich euch vor meinem Ende zu mir berufen, güns- tig liebe Brüder und Schwestern, und euch mein geist- lich Hinscheiden nicht wollen verbergen […]. Dies alles gesagt und bekannt, will ich euch zum Abschied ein weniges aus dem Gefüge spielen, das ich dem lieb- lich Instrument des Satans abgehört […].” Er stand auf, bleich wie der Tod. „Dieser Mann“, ließ sich da in der Stille die klar arti- kulierende, wenn auch asthmatische Stimme des Dr. Kranich vernehmen, „dieser Mann ist wahnsinnig. Daran kann längst kein Zweifel bestehen, und es ist sehr zu bedauern, daß in unserem Kreise die irren ärztliche Wissenschaft nicht vertreten ist […]“. Lever- kühn […] hatte sich an das braune Tafelklavier gesetzt und glättete mit der Rechten die Blätter der Partitur. 5 10 15 1 Gefahr 20 25 30 35 40 45 50 2 Schicksal Nur zu Prüfzweck n – Eigentum des Verlags öbv
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