Literaturräume, Schulbuch [Prüfauflage]

391 Das Fundament Auseinandersetzungen um die Funktion der Literatur „Lieber Steine statt Bücher“ Im Frühjahr und Sommer des Jahres 1968 ziehen in Frankreich und Deutschland zehntausende Studenten und Studentinnen auf die Straße. Ihre Proteste richten sich gegen die Aufrüstung, den Krieg in Vietnam, die Manipulation durch die Medien, aber auch gegen den Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes in die Tschechoslowakei. Radikales In-Frage-Stellen der Ge­ sellschaft lautet das Protestprogramm. Auch die Lite­ ratur ist davon nicht ausgenommen. Man brauche sie nicht mehr, denn Gesellschaftsveränderung soll sich in direkten Aktionen zeigen, nicht auf dem Umweg über Texte. Wenn Geschriebenes nützlich sein soll, dann höchstens in plakativen Formulierungen für Flugblät­ ter, als griffige Reime für Sprechchöre oder zur direk­ ten Dokumentierung tatsächlicher oder vermeintlicher gesellschaftlicher Missstände. Wie direkt sich die For­ derung der Studenten/Studentinnen auf die Literatur auswirkt, Gesellschaftsveränderung aktiv zu praktizie­ ren und nicht über den Umweg des Schreibens, zeigt sich am Beispiel des damals sehr bekannten Autors Peter Schneider: „Holen wir die geschriebenen Träume von den brechenden Bücherborden der Bibliotheken herunter und drücken wir ihnen einen Stein in die Hand.“ Studenten/Studentinnen drücken ihre Verach­ tung von Literatur und Literaturwissenschaft aus, in­ dem sie Parolen wie die folgende an die Universitäts­ wände sprühen: „Schlagt die blaue Blume tot, färbt die Germanistik rot!“ Diskussion um Kunst und Literatur auch in Österreich Die Auseinandersetzungen um die Funktion der Dich­ tung und die Rede von deren möglichem „Tod“ finden auch ganz besonders in Österreich statt. Vor allem in der Grazer Literaturzeitschrift „manuskripte“, dem Sprachrohr der „Grazer Autorenversammlung“, werden die Fragen zu Form, Aufgabe und Wirkungschancen von Literatur diskutiert. Peter Handke (*1942), Alfred Kolleritsch (*1931) und Klaus Hoffer (*1942) betonen, dass gerade Kunst und Literatur, die sich nicht direkt für Zwecke einsetzen lasse und nicht unmittelbar poli­ tisch sei, am ehesten gesellschaftlich verändernd wirken könne. Sprachliche Experimente zum Beispiel sind ihrer Ansicht nach viel auffälliger und laden eher provokant zum Denken ein als realistische Literatur. Andere wie Michael Scharang (*1941) hingegen for­ dern, dass die Literatur die gesellschaftlichen Verhält­ nisse wirklichkeitsnah darstellen müsse, damit sie für das Publikum kritisch erfahrbar werden. Doch nicht nur die „Grazer Gruppe“ leistet einen eminenten Bei­ trag für die moderne deutschsprachige Literatur. Eine Vielzahl österreichischer Autorinnen und Autoren prägt bis heute die deutschsprachige Gegenwartslite­ ratur. Auch aus diesem Grund bietet Ihnen dieses Kapitel einen ausgeprägten Österreich-Schwerpunkt. Um 1968  Die Diskussion über die Aufgabe und Wirksamkeit der Literatur für die Gesellschaft und in der Gesellschaft spitzt sich zu; sogar Autoren plädieren für die „Abschaffung“ der Literatur wegen „Wirkungslosigkeit“. Andere Autorinnen und Autoren wollen eine von allem vordergründig Politischen unabhängige Literatur. In der Folge dieser Diskussion zeigt sich die Dichtung bis heute als Mit- und Gegeneinander unterschiedlichster Tendenzen. Überblick Fundament Leseraum Maturaraum Zusammen­ fassung Literatur­ übersicht Grenzenlos Fokus Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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