Literaturräume, Schulbuch [Prüfauflage]

393 Gegenwartsliteratur – mit Österreichschwerpunkt rung. Zu wahren Skandalen führten aber Stücke wie „Der Müll, die Stadt und der Tod“ von Rainer Werner Fassbinder (1945–82), „Der Stallerhof“, „Bauern ster­ ben“ und „Oberösterreich“ von Franz Xaver Kroetz (*1946), „Kein Platz für Idioten“, „Sibirien“, „Besuchs­ zeit“ von Felix Mitterer (*1948). Sie brachten in realisti­ scher Darstellung moralische und sexuelle Tabus auf die Bühne: Abschiebung von Behinderten und Alten, Wegsperrung von Außenseitern, Vertreibung der Bau­ ern von ihren Höfen, Erniedrigung der Frauen oder die tödliche Langweile in den angesehenen Kreisen der Bürger und Intellektuellen. Besonders befremdend wirkte, dass diese Dramen vielfach in Mundart oder Dialekt verfasst und von den Autoren oft als „Volks­ stück“ bezeichnet wurden. Beides täuschte zumindest anfangs die Erwartungshaltungen der Öffentlichkeit, die Mundart und „Volksstück“ häufig mit schwankhaf­ ter Heiterkeit auf der Bühne verband. Die Autoren/Au­ torinnen knüpften allerdings viel eher an die sozial-kri­ tischen „Volksstücke“ von Ödön von Horváth an als an das Schwanktheater ländlicher Laienbühnen. Als Bei­ spiel für diese „Schockdramen“ finden Sie „Sauschlach- ten“ von Peter Turrini (*1944) (3) . Das Problem der Provokation: die Gewöhnung Theater, das auf Provokation setzt, hat dasselbe Pro­ blem wie jedes Medium, das mit starken Reizen arbei­ tet: Das Publikum stumpft ab und gewöhnt sich. Was früher als Skandal galt, wird später gefeiert. Deutlich wird dies an der Rezeption der „Fäkaliendramen“ von Werner Schwab (1958–94) – der Titel stammt nicht von verstörten Kritikern/Kritikerinnen, sondern vom Autor selbst (4) . Diese sprachlich und thematisch an Tabu­ zerstörung weit über die Schockdramen von Turrini, Kroetz, Mitterer hinausgehenden Stücke wurden auch in Medien, die jene Autoren einst heftig attackiert hat­ ten, zwar kritisch rezensiert, aber selten gehässig her­ untergemacht. Um schockierende sprachliche und reale Gewalt geht es auch in der „leibstücke“ betitel­ ten Sammlung von Dramen und den auf der Bühne aufgeführten Monologen von Ferdinand Schmalz (*1985). Insbesondere der Zugriff auf den menschli­ chen Körper wird zum Symbol von Macht und Ohn­ macht, wie in „schlammland gewalt“ (5) . Provokation im Taschenformat Die Skepsis vieler Autorinnen und Autoren, ob und in­ wieweit Literatur gesellschaftlich wirken könne, wirkt sich auch in anderer Form auf das Theater aus. For­ men wie die auf sprachliche und inhaltliche Verblüf­ fung setzenden Minidramen werden wieder beliebt. Als Beispiele dafür steht „Lehrer im Alltag“ , eines der kurzen „Dramolette“ von Antonio Fian (*1976) (6) . Literarische Österreichkritik „Anti-Heimat par excellence“ Mit diesen scharfen Worten qualifiziert, ohne Zweifel sehr plakativ und pauschal, der Essayist Robert Menasse in seinem Essay „Das Land ohne Eigen­ schaften“ (1992) seine Heimat Österreich. Insbeson­ dere seit den 70er-Jahren war von der Literatur am idyllischen Bild des ländlichen Raumes gekratzt wor­ den. Franz Innerhofer (1944–2002) schildert in „Schö- ne Tage” (1974) aus der Perspektive eines uneheli­ chen Kindes, das zugleich als Dienstbote und „Leibei­ gener“ gehalten wird und zum Bettnässen Zuflucht nimmt, die unterdrückende Welt der Bauern der 50er- und 60er-Jahre (7). „Schattseite” (1975) und „Die großen Wörter” (1977) beschreiben die enttäuschen­ de Flucht vom Bauernhof in das Dorf und in die Stadt. Freilich ist Innerhofers Knechtschaft vorbei, die Bauerndörfer wandeln sich. Man baut die Höfe um und nimmt Gäste auf. Doch das touristische Kon­ zept „Gast mit Familienanschluss“ höhlt oft die Pri­ vatsphäre aus. Die Arbeit verlagert sich, wird nicht weniger, auch nicht für die Kinder. Die Auswirkungen sind manchmal fatal. Davon handelt der 2011 erschie­ nene Roman „Sommer wie Winter“ (8) von Judith W. Taschler (*1970), über das ein Rezensent meint: „In­ nerhofer schreibt in seinem Buch vom ‚Bauern-KZ‘ und man könnte hier, sieht man von der Problematik der Metapher ab, etwas Ähnliches über den Land­ wirtschafts- und Tourismusbetrieb sagen.“ Als „An­ ti-Anti-Heimatroman“ bezeichnete die Literaturkritik den 2012 erschienenen Roman „Blasmusikpop oder Wie die Wissenschaft in die Berge kam“ (9) von Vea Kaiser (*1988). Sie schildert auf humorvoll-satirische Weise Bräuche, Sitten, Hierarchien im fiktiven Dorf St. Peter am Anger mit einem im Holzfäller Johannes Gerlitzen lebenden Riesenbandwurm, einem attrakti­ ven Mönch im Jaguar, poppiger Blasmusik und dem Überblick Fundament Leseraum Maturaraum Zusammen­ fassung Literatur­ übersicht Grenzenlos Fokus - Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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