Treffpunkt Deutsch 2 - Deutsch Sprachlehre, Leseheft

Leseheft Peter Ernst Treffpunkt 2 Deutsch

Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

www.oebv.at Peter Ernst Treffpunkt 2 Deutsch Leseheft Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

Inhaltsverzeichnis Dein Weg zum Leseprofi – Lesestrategien und Lesetechniken trainieren Lesen im Alltag – Lesesituationen kennenlernen 4 Beobachte dich selbst – Lesegewohnheiten überprüfen 6 Wie alles zusammenhängt – Sinnschritte beim Lesen feststellen 8 Denken beim Lesen – Vermutungen anstellen und Zusammenhänge erfassen 10 Lesen mit Köpfchen – Lesetechniken trainieren 12 Teste dich selbst 14 Von Schelmen und Tieren – Epische Kleinformen Schelmen- und Lügengeschichten – Vortragen und verstehen 16 Tiere als Spiegelbilder der Menschen – Fabeln untersuchen 17 Wie man durch Dummheit berühmt werden kann – Eine Schildbürgergeschichte untersuchen 18 Münchhausen – Merkmale einer Lügengeschichte kennenlernen 20 Alte Weisheiten in neuem Gewand – Eine moderne Fabel kennenlernen 22 Was soll es bedeuten? – Die Lehre in Fabeln entdecken 24 Teste dich selbst 26 Ferne Welten, nahe Welten – Jugendbücher Der Schlangenexperte aus dem Urwald – Über Vorurteile nachdenken und sprechen 28 Angriffe aus dem Internet – Wenn man gemobbt wird 30 Fantasievoll erzählen – Sich verzaubern lassen 32 Der Beginn einer Freundschaft – Inhalte darstellen und Fortsetzungen schreiben 34 Eine Freundschaft auf Probe – Über Inhalte nachdenken und sich eine Meinung bilden 36 Teste dich selbst 40 Sagen – Erzählungen aus vergangenen Zeiten Unheimliche Geschehnisse – Arbeit mit dem Text 42 List setzt sich durch – Texte verstehen und Ideen umsetzen lernen 44 Übermut tut selten gut – Genau lesen und Vermutungen anstellen 46 Und noch mehr Abenteuer – Informationen finden und überprüfen 49 Teste dich selbst 50 Die Römer in Österreich – Geschichte wird lebendig Austria Romana – Texten und Grafiken Informationen entnehmen 52 Julius Caesar – Ein herausragender Römer 54 Das Kolosseum – Perspektiven wechseln 56 Ein Ausflug nach Carnuntum und auf den Magdalensberg – Fakten interpretieren 58 Leben im alten Rom – Einen Text gliedern und zusammenfassen 60 Teste dich selbst 62 Lösungen 63 Text-/Bildquellenverzeichnis 64 1 2 3 4 5 Diese Aufgaben helfen dir, den Lernstoff zu erarbeiten, anzuwenden und zu festigen. Diese Aufgaben sind komplexer und fordern dich heraus. Hier kannst du dein Wissen vertiefen. 1 1 2 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

3 Dein Weg zum Leseprofi – Lesestrategien und Lesetechniken trainieren Beim Frühstück interessierst du dich für den Fruchtanteil der Marmelade, in der U-Bahn blätterst du in der Gratiszeitung und betrachtest neugierig das Plakat mit der Vorankündigung eines Filmes, der dich interessiert, du freust dich über eine SMS deiner Freundin und schaust kurz noch die Englisch-Vokabeln an. Du staunst, wie viel und wie oft du in so kurzer Zeit liest? Wie du siehst, ist Lesen Grundvoraussetzung für Verstehen, Wissen, Kommunizieren. Lesen hilft uns bei alltäglichen Dingen. Nun hast du die Möglichkeit, deine Lesefähigkeit zu trainieren, um Leseprofi zu werden! In welchen Situationen lesen Menschen? Löse das Rätsel, damit du erfährst, wo Buchwurmmädchen Barbara gerne liest. 1 3 4 5 2 1 Der Arzt verschrieb Theo ein Medikament gegen Husten. Damit er weiß, wie oft er es einnehmen muss, liest er den … 2 Frau Hager sucht einen Parkplatz. Neben der Parkplatzeinfahrt ist ein … aufgestellt, das sie liest, um die Benutzungsregeln zu kennen. 3 Anna fährt mit dem Bus zu Oma und Opa. Damit sie weiß, wann er abfährt, liest sie den … 4 Gerhard baut gerne Lego-Fahrzeuge. Er liest die … 5 Beate hat von ihrer Freundin Ella in den Ferien eine … aus Kroatien bekommen. Lösungswort: 1 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

Lesen im Alltag – Lesesituationen kennenlernen 1 2 3 4 www.wienerlinien.at SCHNELLVERBINDUNGEN IN WIEN © Wiener Linien, Juli 2016 Infostelle der Wiener Linien Ticketstelle der Wiener Linien U-Bahn-Linie S-Bahn-Linie Lokalbahn Wien-Baden City Airport Train (Eigener Tarif, VOR-Tickets ungültig) Vienna International Busterminal Kundenzentrum der Wiener Linien (U3 Erdberg) Park & Ride Nußdorf Oberdöbling Leopoldau Krottenbachstr. Gersthof Hernals Breitensee Penzing Weidlingau Purkersdorf-Sanatorium Hadersdorf Speising Hetzendorf Atzgersdorf Liesing Blumental Quartier Belvedere Matzleinsdorfer Platz Schedifkaplatz Schöpfwerk Gutheil-Schoder-Gasse Inzersdorf Lokalbahn Neu Erlaa Schönbrunner Allee Vösendorf-Siebenhirten Grillgasse Kledering Rennweg Biocenter Vienna St. Marx Geiselbergstr. Zentralfriedhof Kaiserebersdorf Schwechat Haidestraße Praterkai Stadlau ErzherzogKarl-Straße Süßenbrunn Gerasdorf Siemensstraße Brünner Straße Jedlersdorf Strebersdorf Traisengasse FranzJosefsBahnhof Messe-Prater Krieau KaisermühlenVIC Währinger Straße- Volksoper Schottentor Schwedenplatz Kagraner Platz Aderklaaer Straße Großfeldsiedlung Kardinal-Nagl-Platz Gumpendorfer Straße Michelbeuern-AKH Josefstädter Straße BurggasseStadthalle Kendlerstraße Ottakring Johnstraße Schweglerstraße Niederhofstraße Thaliastraße Alser Straße Nußdorfer Straße Jägerstraße Friedensbrücke Dresdner Straße Handelskai Floridsdorf Stadtpark Karlsplatz Stadion Praterstern Keplerplatz Reumannplatz Landstraße (Bhf. Wien Mitte) Rochusgasse Schlachthausgasse Erdberg Gasometer Enkplatz Zippererstraße Simmering Donauinsel Alte Donau Kagran Rennbahnweg Rathaus Bahnhof Meidling Hütteldorfer Straße Volkstheater Roßauer Lände Taubstummengasse Südtiroler Platz Hauptbahnhof Taborstraße Nestroypl. Neue Donau Heiligenstadt Spittelau Vorgartenstraße Museumsquartier Hütteldorf Ober St. Veit Unter St. Veit Braunschweiggasse Hietzing Schönbrunn Meidling Hauptstraße Längenfeldg. Margaretengürtel Kettenbrückengasse Herrengasse Stubentor Schottenring Pilgramgasse Zieglerg. Neubaug. Westbahnhof Wolf in der Au Stephansplatz Donaumarina Donaustadtbrücke Hardeggasse Donauspital Aspern Nord Am Schöpfwerk Perfektastraße Alterlaa Tscherttegasse Siebenhirten WLB Wiener Neudorf, Baden (Endstation) Erlaaer Straße Seestadt Aspernstraße Hausfeldstraße Hirschstetten 4 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

Warum man liest Leseart Man will oder muss sich einen Überblick über einen ganzen Text bzw. über mehrere Texte verschaffen. Worum geht es insgesamt? Welchem Bereich ist der Text zuzuordnen? Was sind die Themen der einzelnen Abschnitte? Welche Schlüsselwörter sind erkennbar? Überfliegendes Lesen Man will schnell und gezielt nach bestimmten Einzelinformationen suchen. Suchendes Lesen Man will oder muss sich mit einem Text in allen Einzelheiten beschäftigen. Genaues Lesen Man liest aus Freude am Lesen, weil man spannende Geschichten gerne hat, weil man Neues und Interessantes erfahren möchte, weil man sich gerne in Fantasiewelten träumt. Unterhaltendes Lesen Auf der gegenüberliegenden Seite siehst du Bilder zu verschiedenen Lesesituationen. Notiere Stichwörter in die Tabelle und schreibe dann ganze Sätze in dein Heft: a) wo und wann du diese Texte wohl lesen wirst, b) was darin beschrieben wird, c) wozu (d.h. zu welchem Zweck) du ihn liest, d) wie du den Text erfasst (d. h. mit welcher Lesestrategie). Situation Wo und wann? Was? Wie? Wozu? 1 2 3 4 Unterschiedliche Arten von Texten verlangen nach jeweils angepassten Lesestrategien. Diese hängen davon ab, wo und wann man welchen Text liest und wozu man ihn braucht. Merke 1 N Lesestrategien und Lesetechniken trainieren 5 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

Beobachte dich selbst – Lesegewohnheiten überprüfen Je besser deine Lesegewohnheiten werden, desto leichter wird dir das Lesen fallen. Das fördert nicht nur die Freude am Lesen, sondern hilft dir vor allem auch beim Verstehen und Lernen im Alltag und in der Schule. Stures Lesen: Du liest jeden Text auf die gleiche Weise, mit gleicher Geschwindigkeit, gleicher Konzentration – egal, ob es sich um ein Schulbuch, ein Comic-Heft, einen Krimi, einen Sportbericht in der Tageszeitung oder das Ergebnis einer Suchanfrage im Internet handelt. Flexibles Lesen: Du überlegst, zu welchem Zweck du einen Text liest und wählst dazu die passende Strategie: das überfliegende Lesen, das suchende Lesen, das genaue Lesen oder das unterhaltende Lesen. Buchstabierendes Lesen: Du liest jeden Buchstaben einzeln. Das verlangsamt deine Lesegeschwindigkeit und erschwert das Verstehen einzelner Wörter und eines Textes. Das buchstabierende Lesen ist nur sinnvoll, wenn wir schwierige, unbekannte Wörter das erste Mal lesen (z. B. Popocatépetl). Wortbilder erkennen: Das Wort ist die kleinste sinnvolle Leseeinheit – es gelingt dir, Wörter schon an ihrem Gesamtbild zu erkennen. Wort-für-Wort-Lesen: Du liest jedes Wort für sich und kannst dadurch nicht sehr zügig lesen, weil dein Auge jedes Wort neu ansteuern muss und dir beim Verstehen jedes Wort gleich wichtig erscheint. Wortgruppen-Lesen: Dein Auge und Gehirn kann mehrere Wörter aufnehmen, und so kommst du in jeder Zeile mit wenigen Blicksprüngen aus. Da in jeder Wortgruppe mindestens ein Wort ist, das für den Textsinn wichtig ist, verbessert sich durch das Erfassen der Wortgruppe dein Textverständnis. Mitsprechendes und nachfahrendes Lesen: Du liest laut oder leise mit und bewegst die Lippen dabei. Dadurch hast du Schwierigkeiten, zügig zu lesen, denn deine Augen und dein Gehirn sind viel schneller als deine Lippenmuskeln. Gleitendes Lesen: Du hältst beim Lesen den Kopf still und ca. 30 cm vom Text entfernt. Du gleitest mit den Augen in Schwüngen über die Zeilen und springst gleich auf das zweite oder dritte Wort am Zeilenanfang. Passives Lesen: Der Sinn eines Textes ergibt sich für dich nacheinander, Wort für Wort. Dadurch hinkt dein Verständnis dem Lesen der einzelnen Wörter hinterher und du kannst nicht sicher und zügig lesen. Aktives Lesen: Du stellst während des Lesens Vermutungen an, wie es weitergehen wird oder welchen Sinn der Text ergibt. Bestätigen sich deine Vermutungen nicht, stellst du neue an, die du beim Lesen wiederum überprüfst. Du kannst mit der Art, wie du liest, großen Einfluss darauf nehmen, wie schnell und gut du lesen kannst. Das Erkennen von Sinneinheiten (Wortbildern, Wortgruppen) erleichtert dir das Lesen. Achte dabei immer darauf, ob du den Inhalt auch wirklich verstanden hast. Merke 6 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

Den Blick für Wort- und Zeilengrenzen schärfen Besprich mit deiner Sitznachbarin oder deinem Sitznachbarn, wo im Text welche Satzzeichen gesetzt werden sollten, und tragt sie ein. Schreibe dann den Text mit den Satzzeichen und Abständen in dein Heft. 1 B N Satzzeichen helfen dir, Sinnzusammenhänge herzustellen. Merke Lesestrategien und Lesetechniken trainieren 7 Bertolt Brecht EswareinmaleinPrinzweitdrübenimMärchenlandeWeildernurei nTräumerwarliebteeressehraufeinerWiesenahedemSchlosszuli egenundträumendindenblauenHimmelzustarrenDennaufdieserWiese blühtendieBlumengrößerundschönerwiesonstwoUndderPrinzträu mtevonweißenweißenSchlössernmithohenSpiegelfensternEsgeschaha berdassderalteKönigstarbNunwurdederPrinzseinNachfolgerUndderne ueKönigstandnunoftaufdenZinnenvonweißenweißenSchlössernmithoh enSpiegelfesternUndträumtevoneinerkleinenWiesewodieBlumengr ößerundschönerblühtendennsonstwo Es war ein Prinz, weit drüben im Märchenlande. Weil der nur ein Träumer war, liebte er es sehr, auf einer Wiese nahe dem Schloss zu liegen und träumend in den blauen Himmel zu starren. Denn auf dieser Wiese blühten die Blumen größer und schöner wie sonst wo. Und der Prinz träumte von weißen, weißen Schlössern mit hohen Spiegelfenstern. Es geschah aber, dass der alte König starb. Nun wurde der Prinz sein Nachfolger. Und der neue König stand nun oft auf den Zinnen von weißen, weißen Schlössern mit hohen Spiegelfenstern. Und träumte von einer kleinen Wiese, wo die Blumen größer und schöner blühten denn sonst wo. Lösung Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

8 Wie alles zusammenhängt – Sinnschritte beim Lesen feststellen Manchmal sind Texte überhaupt nicht oder nicht so gegliedert, dass man schon mit einem Blick einzelne Sinnschritte erkennen kann. „In einem tiefen Wald sah ich einmal einen wilden Frischling und eine Sau dicht hintereinander hertraben, die beiden gehörten zueinander, das war mir sofort klar und ich muss hervorragenden Wind gehabt haben, denn sie liefen mir sozusagen über den Weg. / Ich schieße, wie Sie wissen, eine saubere Kugel, aber diese Kugel traf nicht. Nun erwartete ich natürlich, die beiden würden im nächsten Augenblick verschwunden sein. Zu meinem Erstaunen aber rannte nur der Frischling davon. Die Sau blieb bewegungslos stehen, als ob sie an den Boden festgenagelt wäre. / Sie können sich denken, wie sehr mich die Sache beeindruckte, und ich wollte sie sofort näher untersuchen. Ich pirschte mich also heran, bis ich auf zwei Schritte vor ihr stand. Und was soll ich Ihnen sagen, die Bache war blind. Außerdem hing ihr irgendetwas, wie ich sehen konnte, aus dem Rachen heraus. Ich ging noch einen Schritt näher – und was stellte ich fest? Es war der Schwanz des verschwundenen Frischlings. Nun wurde mir klar, warum die beiden so dicht hintereinander gegangen waren: Die Bache hatte den Schwanz des Frischlings stets zwischen ihren Zähnen gehalten und er hatte sie auf diese Weise geführt. Meine Kugel musste also genau zwischen den beiden hindurchgeflogen sein und diese Verbindung zerrissen haben. Die alte Sau aber merkte es nicht, solange sie noch auf dem Schwanz herumkauen konnte. Weil sie jedoch nicht weiter vorwärts gezogen wurde, war sie einfach stehen geblieben. Als ich mir das klar gemacht hatte, fasste ich meinen Entschluss natürlich sehr schnell. Ich griff nach dem Schwanzende des Frischlings und setze mich in Bewegung. Das alte, hilflose Tier folgte mir ohne Widerstand, und ich konnte es mühelos nach Hause bringen, obwohl, Sie wissen es so gut wie ich, wilde Bachen furchterregend grausam sein können.“ Münchhausen ließ seinen Gästen nicht lange Zeit, sich von ihrem Lachen zu erholen. Er räusperte sich nur ein wenig und hatte schon das nächste Jagderlebnis bei der Hand. Münchhausen entdeckt Wildschweine Wildschwein bleibt nach Fehlschuss stehen In dieser Münchhausengeschichte sind bereits zwei Sinnschritte mit Schrägstrichen markiert. Zeichne die weiteren Sinnschritte ein und fasse sie wie im Beispiel in der rechten Spalte mit wenigen Worten zusammen. Besprecht, wie ihr die Geschichte gegliedert habt und begründet eure Entscheidung. Bringe die sechs Abschnitte A–F des indischen Märchens rechts in die richtige Reihenfolge. Gehe nach folgendem Beispiel vor: Während er nun dahinflog  „Während … nun“ – da muss schon vorher etwas passiert sein! 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 1 C 2 3 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

Lesestrategien und Lesetechniken trainieren 9 Auf die Sinnentwicklung achten Während er nun dahinflog mit den Narren an seinem Schwanz, da wollte es das Schicksal, dass einer von ihnen den König fragte: „Nun sag’ uns einmal ganz aufrichtig, wie groß die Pfannkuchen waren, die du so mühelos nach Herzenslust im Himmel gegessen.“ Der König der Toren1 vergaß sich, ließ den Schwanz des Stieres los, legte die hohlen Hände aneinander. „So groß“, wollte er rasch zu ihnen sagen – da sauste er aber schon mit all den anderen vom Himmel herab, und alle fielen zu Tode. A Dort verlebte der Einfaltspinsel einige wonnige Tage, indem er Himmelsspeise genoss, Naschwerk und andere gute Dinge. Als er aber sah, dass der Stier immer wiederkam, dachte er: „Ich will mich wieder an seinen Schwanz hängen, meine Freunde besuchen und ihnen von diesem Wunder erzählen; dann kehre ich hierher zurück.“ Und so trat er denn eines Tages an den Stier heran, hing sich, als dieser davongehen wollte, an seinen Schwanz und gelangte wieder auf die Erde. B In einem Kloster lebte einst ein Tor als Oberhaupt vieler anderer Toren. Der hörte einmal, dass in der anderen Welt denjenigen ein hoher Lohn erwarte, der einen Teich habe anlegen lassen. Da er nun Geld in Fülle hatte, baute er also nicht weit von seinem Kloster einen mächtigen, wasserreichen Teich. C Beim ersten Schein des folgenden Morgens war er schon auf der Lauer. Da sah er, wie ein Stier vom Himmel herabkam und mit seinen Hörnern das Ufer zerwühlte. „Ei“, dachte der Mann, „das ist ein Himmelsstier! Da kann ich vielleicht mit ihm in den Himmel kommen!“ Also packte er den Stier mit beiden Händen am Schwanz. Der heilige Stier aber riss den verrückten Gesellen, der an seiner Schwanzspitze hing, pfeilgeschwind mit sich empor und trug ihn augenblicklich zu seiner Wohnung auf den Gipfel des Himalaja. D Als dieser König aller Narren nun ausging, um sich seinen Teich zu besehen, bemerkte er, dass jemand dessen Ufer aufgerissen hatte. Und als er am folgenden Tage wiederkam, sah er, dass das Ufer abermals aufgewühlt war, diesmal an der anderen Seite. Da dachte er in seiner Erregung: „Morgen bei Tagesgrauen will ich hier sein und den ganzen Tag hier bleiben, um zu sehen, wer der Frevler ist.“ Mit diesem Vorsatz ging er nach Hause. E Er kam in sein Kloster. Da umarmten ihn die anderen Narren, die sich darin befanden, und auf ihre Frage, wo er denn gewesen sei, erzählte er ihnen seine Erlebnisse. Wie sie alle diese wunderbare Geschichte hörten, baten sie, er solle so gut sein, sie dorthin mitzunehmen, damit auch sie das vorzügliche Naschwerk genießen könnten. Der Mönch war’s zufrieden, sagte ihnen, wie sie es anfangen müssten, und führte sie am folgenden Tage zu dem Teich. Und richtig stellte sich der Stier wieder ein. Da hielt sich unser Mönch als der Erste mit beiden Händen an dem Schwanz des Stieres fest; ein anderer fasste ihn selbst an den Füßen, ein Dritter den Zweiten, und so hängte sich immer einer an die Füße seines Vordermannes; und als die Kette fertig war, da stieg der Stier schon in den Luftraum empor. F Schreibe unter dem Titel „Wie Satzzusammenhänge entstehen“ in dein Heft Wörter, die Satzzusammenhänge erkennen lassen wie z.B. entweder – oder, wenn – dann. N 4 1 Tor = unkluger Mensch, Narr Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

Viele Texte erschließen sich nicht so leicht beim ersten Lesen. Sie entwickeln sich erst und geben ihren Sinn nur langsam und Stück für Stück frei. Das macht das Lesen interessant und spannend. Geübte Leserinnen und Leser stellen beim Lesen Vermutungen darüber an, wie der Text weitergehen könnte und was für das Verständnis wahrscheinlich wichtig ist. Beim Lesen prüfen sie, ob sie ihre Vermutungen bestätigt bekommen. So sind sie mit ihrem „Kopf“ den „Augen“ immer ein Stück voraus. Das hilft beim überfliegenden Lesen wie auch beim genauen Lesen. Das erste Kapitel eines Jugendbuchs trägt die Überschrift „Die Diamantene Stunde“: Was geht dir bei der Überschrift durch den Kopf? Was erwartest du von der Geschichte? Trage weitere Wörter, die dir zu der Überschrift einfallen, in das Cluster ein. Worauf hat das Wort „Diamant“ im Titel hingewiesen? Was verbindet „Winter“ mit dem Wort „Diamant“ in der Überschrift? Sprecht in der Klasse darüber. Der Tag liegt Wochen zurück, doch ich erinnere mich genau, weil es kurz vor Stefans Geburtstag am 12. Dezember war. An diesem Tag fiel auch der Winter ein, der Umsturz kam über Nacht. Ich wachte auf, und alles war totenstill. Reif lag auf den Wiesen und Feldern, die Pfützen im Garten waren vereist. Sie glänzten in der Sonne wie Silbertaler, die der Frost verloren hatte, als er ins Land eingedrungen war. Es war unheimlich draußen, ich war ganz allein. Die Sonne stand tief am verhangenen Horizont, ihr blasses Licht warf keine Schatten. Zähe Nebel hingen über der Stadt. Nirgendwo waren Menschen zu sehen, die Gärten und Straßen lagen leer, ausgestorben im milchigen Dunst. Unterstreiche jene Satzteile im Text oben, die in einem inhaltlichen Bezug zum Wort „totenstill“ stehen. 1 Dämmerung Glanz, Schein durchsichtig, gläsern kalt Die Diamantene Stunde C 2 2 4 6 8 3 Die Wortwahl in einer Geschichte bestimmt nicht nur darüber, was man beim momentanen Lesen erfährt oder empfindet. Durch die Wortwahl wird die Leserin oder der Leser auch darauf hingewiesen, worauf sie oder er beim Lesen in der Folge achten muss. Merke 10 Denken beim Lesen – Vermutungen anstellen und Zusammenhänge erfassen Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

Lesestrategien und Lesetechniken trainieren 11 Lies den nächsten Abschnitt. Ist Baumann wichtig für den weiteren Fortgang der Handlung? Ist er auf der Seite des Ich-Erzählers oder sein Gegner? Was vermutest du? Als ich zum Schuppen ging, um Holz für den Kamin zu holen, sah ich Nachbar Baumann auf dem Balkon. Er war im Morgenmantel und trug einen Schal um den Hals. Die Pelzhaube auf dem Kopf reichte weit über Ohren und Stirn. Geistesabwesend starrte er in die Ferne, als sähe er ein schreckliches Bild. Dann rieb er sich vergnügt die Hände und lachte lautlos in sich hinein. „Glauben Sie, dass es ernst wird?“, rief ich zu ihm hinauf. Doch er antwortete nicht, sondern wies mit der Hand zum Himmel und schüttelte drohend die Faust. Auf welche Wörter in dem Abschnitt stützt du deine Vermutungen? Untersteiche sie! Lies den nächsten Abschnitt. Wie geht es dir – machst du dir auch keine Gedanken mehr über Baumann? Was hast du bis jetzt über den seltsamen Nachbarn erfahren, und worauf deutet das hin? Er lachte schrill auf, als wär’ er nicht richtig im Kopf, schüttelte wieder die Faust und wandte sich langsam ab. Bevor aber Baumann ins Zimmer zurückging, fiel mir sein Gesicht auf: Es war merkwürdig weiß, wie mit Raureif bedeckt; als hätte Baumann die Nacht im Eisschrank verbracht. Während ich ihm nachsah, fuhr ein scharfer Windstoß durch den Garten. Die großen Fichten am Zaun bogen sich, die Kellertür fiel krachend ins Schloss. Ich packte die Holzscheite in den Korb und wollte gerade den Schuppen abschließen, als mir auffiel, dass die Fenster vom Nachbarhaus über und über mit Eisblumen bedeckt waren – als ob Baumann weiße Gardinen vorgezogen hätte. Die Scheiben der anderen Häuser waren eisfrei, und auch bei mir zeigten die Fenster nur blankes Glas. „Merkwürdig“, dachte ich … und machte mir keine Gedanken mehr über Baumann. Welche Zusammenhänge kannst du zwischen seinem Gesicht und den vereisten Frostscheiben erkennen? Welche Schlüsse ziehst du daraus? Lies den nächsten Abschnitt. Erinnerst du dich noch an das Wort „totenstill“? Was ist daraus jetzt geworden? Es war zehn Uhr morgens, als das Kältegewitter begann, und es hielt noch am Abend an. Schon seit Mittag war der Himmel blauschwarz, es wurde früher dunkel als sonst. Der eisige Nordwind trieb die Flocken in dichten Staffeln heran, deckte Rasen und Beete zu und häufte im Garten Verwehungen auf. Ich stand am Fenster und blickte in das tosende Grau. Wo am Morgen noch Büsche und Beete gewesen waren, konnte man nur noch Hügel erkennen, die kahlen Gräbern glichen. Der Garten war zu einem Friedhof geworden, die Schneelast erstickte alles Leben. Die Tannen am Zaun hatten sich in weiße Gestalten verwandelt und sahen wie Riesen in Tarnanzügen aus, die lauernd Wache standen. Fuhr der Wind hindurch, bewegten sie die schweren Glieder, als rückten sie unmerklich auf das Haus zu. Im Dunkel schlossen sich die Reihen, die Mauer wurde undurchdringlich und hoch. Das Haus glich einer Festung. Eine Belagerung stand bevor. In diesem Abschnitt geht es um „Riesen in Tarnanzügen, die lauernd Wache stehen“. Sind sie vielleicht ein Hinweis darauf, wie dieses Kältegewitter zu erklären ist? Und wirklich, das nächste Kapitel trägt die Überschrift 4 10 12 14 5 6 16 18 20 22 7 8 24 26 28 30 32 34 36 9 Die Invasion der weißen Riesen Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

Zügig lesen – Thema/Inhalt insgesamt erfassen Du willst wissen, worum es im Großen und Ganzen in dem folgenden Textabschnitt geht. Lies den Text so zügig wie möglich – aber nur einmal! Stoppe deine Lesezeit. Fasse anschließend Thema/Inhalt des Textabschnitts in ein oder zwei Sätzen zusammen. Schreibe in dein Heft. Zu Beginn des Erdmittelalters sah die Erde anders aus als heute. Es gab nur ein einziges großes Meer und einen einzigen Kontinent, dem man den Namen Pangäa gegeben hat. Auf diesem riesigen, von Palmen und Farnen bewachsenen Kontinent tauchte vor etwa 230 Millionen Jahren ein neuer Typ von Lebewesen auf, ein Reptil, das sich auf zwei Beinen bewegte, das flink war und ziemlich klein. Dieses Reptil, das wir heute Dinosaurier nennen, entwickelte sich in den kommenden Jahrmillionen auf eine Weise, die uns bis heute erstaunt und fasziniert. Die Dinosaurier wurden größer als alle Tiere, die vorher oder nachher auf der Erde lebten. Es gab sie mit und ohne Panzer, mit Stacheln, Hörnern und sogar Sonnensegeln. Es gab Dinosaurier, die auf zwei und welche, die auf vier Beinen liefen, Dinosaurier, die Pflanzen fraßen, die Fleisch fraßen, und Dinosaurier, die alles fraßen. Über 150 Millionen Jahre sollte dieses zähe, anpassungsfähige Reptil die Erde beherrschen. Es schien unzerstörbar. (155 Wörter) Du hast inzwischen viele Tipps bekommen, wie man zügiger lesen kann. Lesegeschwindigkeit ist aber nicht alles. Es kommt darauf an, wie man gezielter den Inhalt des Gelesenen erfassen und behalten kann. Merke 1 N 2 4 6 8 10 12 14 Du hast in dem Text etwas über Dinosaurier gelernt. Beantworte die folgenden Fragen zügig und ohne lange darüber nachzudenken: Stimmt Stimmt nicht Weiß nicht Alle Dinosaurier waren Pflanzenfresser. A B C Alle Dinosaurier fraßen Pflanzen und Fleisch. D E F Vermutlich fraßen einige Dinosaurier Palmen und Farne. G H I Einige Dinosaurier waren Pflanzenfresser. J K L Nur die vierbeinigen Dinosaurier fraßen Pflanzen. M N O Wie viele Sekunden hast du zum Lesen gebraucht? Vergleiche deine Lesezeit mit der Tabelle rechts. 2 Wenn man seine Lesezeit kontrollieren will, kann man sich an der folgenden Formel orientieren: Zahl der gelesenen Wörter × 60 Lesezeit in Sekunden 250 Wörter pro Minute = sehr gute Leseleistung 210 Wörter pro Minute = gute Leseleistung 180 Wörter pro Minute = durchschnittlich 160 Wörter pro Minute = Lesetraining empfehlenswert Wenn deine Lösung B – E – G – J – O ist, liest du schon mit sicherem Verständnis. 3 12 Lesen mit Köpfchen – Lesetechniken trainieren Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

Tipp- und Druckfehler entdecken Im Alltag kommt es oft vor, dass Texte Fehler enthalten, die den Verfasserinnen oder Verfassern entgangen sind. Unser Gehirn ist in der Lage, einfachere Unstimmigkeiten in der Buchstabenfolge zu entdecken und zu korrigieren. Probiere es einmal aus! Lies den Text aufmerksam durch. Welche Wörter sind falsch geschrieben oder ergeben keinen Sinn? Schreib sie in den Zeilen daneben richtig auf. 4 Das Hofburgtheater Über den mähctigen Vorplatz des Rathauses geht es wieter zum noblen Bau des Brugtheaters. Fedreführend bie der Errichtung war der deutsche Architekt Gottfried Semper. Er entwraf nach jahrelangen Planungne ein modrenes, allen Anfroderungen der Technik genügendes Haus. 2 4 6 Lesestrategien und Lesetechniken trainieren 13 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

Nenne zwei Lesegewohnheiten, die dir helfen, zügig zu lesen. Schreibe auf, welche Lesestrategie oder welche Lesestrategien du in der jeweiligen Lesesituation anwendest: a Du suchst im Internet die Telefonnummer deiner Bücherei in der Gartenstraße. Die Suchmaschine zeigt 11 Treffer zum Suchwort „Bücherei“. b Du sitzt vier Stunden im Zug, um zu deiner Freundin oder deinem Freund zu reisen. Vor dir liegt die neueste Ausgabe deines Lieblingscomics. Ordne die Satzhälften richtig zu und unterstreiche die Wörter, die dir geholfen haben, die richtige Reihenfolge zu finden. Auf meine Frage meinte er, dass er sowohl gerne Kuchen oder gar nicht. Wenn es dir gefällt, andererseits sollte ich unbedingt Englisch lernen. Entweder fahren wir gleich als auch Eis esse. Einerseits wäre es schön, ins Kino zu gehen, desto leichter fällt es mir. Je öfter ich lese, dann kaufen wir das Buch. Bringe die Spielanleitung in die richtige Reihenfolge und schreibe in Stichworten daneben, welche Wörter oder Angaben dir dabei geholfen haben. Jeder Spieler bzw. jede Spielerin zieht eine Karte. Der Spieler oder die Spielerin, der oder die die höchste Karte zieht, ist der Geber oder die Geberin. Die restlichen Karten werden verdeckt auf den Tisch gelegt und bilden den Kartenstock. Kann der Spieler oder die Spielerin keine Karte ablegen, muss er oder sie eine Karte vom Kartenstock ziehen. Gewinner oder Gewinnerin ist, wer als Erstes alle Karten abgelegt hat. Danach werden die Karten gemischt und jeder Spieler bzw. jede Spielerin erhält sieben Karten. Der Spieler oder die Spielerin zur Linken des Gebers oder der Geberin beginnt das Spiel. Die Karten, die abgelegt werden können, müssen mit den Karten des Ablagestapels in Farbe oder Zahl übereinstimmen. 1 2 3 4 14 Teste dich selbst Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

2 Von Schelmen und Tieren – Epische Kleinformen Schelme und Narren hat es zu allen Zeiten und an vielen Orten gegeben. Deshalb spielen die meisten der Geschichten in lange zurückliegenden Zeiten an verschiedenen Orten auf der Welt. Die Schelme treten in verschiedenen Ländern und unter verschiedenen Namen auf, haben jedoch oft ähnliche Charaktereigenschaften. „Epische Kleinformen“ werden Texte genannt, die nicht sehr umfangreich sind, die Leserin bzw. den Leser vor allem unterhalten sollen und eine ausgeprägte Lust am Fabulieren (= fantasievoll Erzählen) zeigen. Oft erzählen sie davon, dass am Ende nicht immer der Stärkere siegt. Manchmal setzt sich die List gegen Stärkere durch, manchmal sind Geist und Witz wichtiger als Muskelkraft. Viele Geschichten erzählen aber auch davon, wie List und Tücke eingesetzt werden, um andere zu betrügen und sich einen unberechtigten Vorteil zu verschaffen. In Fabeln können Tiere sprechen und handeln wie Menschen. Man kann eine Lehre für das eigene Leben daraus ziehen. Welche Eigenschaften des Menschen werden Tieren in Fabeln zugeschrieben? Ordne die Eigenschaften den richtigen Fabelwesen zu. Verbinde das Foto des Tieres mit den passenden Eigenschaften. dumm, schwach, schutzlos stolz, stark, mächtig gutmütig, freundlich, etwas naiv schlau, listenreich, skrupellos störrisch, faul, unfreundlich böse, gierig, rücksichtslos treu, freundlich, arglos 15 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

Schelmen- und Lügengeschichten – Vortragen und verstehen Nacherzählt von Ulrich Marzolph: Nasreddin und das Urteil des Richters EINES TAGES, ALS NASREDDIN HODSCHA ÜBER DEN MARKT GING, GAB IRGENDEIN KERL IHM EINEN KRÄFTIGEN SCHLAG AUF DEN NACKEN. INDEM DER HODSCHA SICH UMDREHTE UND IHM INS GESICHT SCHAUTE, RIEF DER MANN AUS: „O, VERZEIH MIR, HODSCHA! AUF MEIN WORT, ICH HABE DICH FÜR JEMAND ANDEREN GEHALTEN!“ – „WAS FÜR EINEN UNFUG DER DUMME KERL REDET“, MEINTE HODSCHA. „KOMM MIT, WIR WERDEN DIESE ANGELEGENHEIT SICHER VOR DEM RICHTER REGELN!“ SO GINGEN SIE ZUM RICHTER. DER RICHTER WAR ABER EIN VERWANDTER JENES MANNES, UND ALS HODSCHA SEINE KLAGE VORGEBRACHT HATTE, SAGTE ER: „DIE STRAFE FÜR DIESEN SCHLAG BETRÄGT EINEN HALBEN PIASTER. NUN BEEIL DICH UND HOL DAS GELD HERBEI!“ DER MANN GING FORT. WÄHREND ER DORT WARTETE, WURDE DEM HODSCHA KLAR, DASS ER SEINE ZEIT VERSCHWENDETE UND DASS DER KERL NICHT WIEDERKOMMEN WÜRDE. DA STAND ER AUF UND VERSETZTE DEM RICHTER EINEN KRÄFTIGEN SCHLAG AUF DEN NACKEN. „HE!“, RIEF DER RICHTER, „WAS MACHST DU DENN DA?“ – „ICH HABE ETWAS WICHTIGES ZU TUN“, RIEF HODSCHA. „NIMM DAFÜR DEN HALBEN PIASTER, DEN DER KERL NOCH BRINGEN WIRD!“ 2 4 6 8 10 12 14 16 Nacherzählt von Ulrich Marzolph: Der Schmuggler WIEDER UND WIEDER passierte Nasreddin auf ESELSRÜCKEN DIE TÜRKISCHGRIECHISCHE Grenze. JEDES Mal HATTE ER DEM Esel ZWEI große KÖRBE VOLL Stroh aufgeladen, UND ZURÜCK KAM er OHNE sie UND ZU FUß. JEDES MAL DURCHSUCHTE IHN DIE GRENZWACHE nach SCHMUGGELWARE, FAND ABER NICHTS. „WAS FÜHRST DU MIT, Nasreddin?“ „ICH SCHMUGGLE“, SAGTE er JEDES MAL LACHEND. JAHRE später zog NASREDDIN, der INZWISCHEN ÄUßERST wohlhabend AUSSAH, NACH ÄGYPTEN. DORT TRAF IHN EIN MANN DER Grenzwache, DER ihn IN FRÜHEREN TAGEN KONTROLLIERT HATTE. „MULLAH, NUN, da du DICH AUßERHALB DER GRIECHISCHEN UND TÜRKISCHEN GERICHTSBARKEIT BEFINDEST UND IN SOLCHEM WOHLSTAND LEBST, SAG MIR nur EINS – was HAST DU bloß GESCHMUGGELT, ALS wir NIE ETWAS BEI DIR FINDEN KONNTEN?“ „ESEL.“ 2 4 6 8 10 12 14 Übe, die Texte trotz des ungewohnten Schriftbildes fehlerfrei und flüssig vorzutragen. Fasse in eigenen Worten zusammen, wodurch sich Nasreddin als Schmuggler einen Vorteil verschafft. Schreibe in dein Heft. Besprecht in der Klasse, wie sich die Geschichte in Szenen umformen lässt, und spielt diese dann vor. B 1 N 2 1 C 16 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

Tiere als Spiegelbilder der Menschen – Fabeln untersuchen Nach Äsop: Der alte Löwe und der Fuchs Ein Löwe lag alt und schwach in seiner Höhle und war nicht mehr fähig, selbst auf die Jagd zu gehen. In seiner Not ließ er in seinem Reich die Botschaft von seinem nahen Tod verbreiten und allen Untertanen befehlen, an den königlichen Hof zu kommen. Er wolle von jedem persönlich Abschied nehmen. Nacheinander stellten sich die Tiere vor der Höhle des ein, und der König der Tiere rief jeden zu sich. Mit kleinen Geschenken gingen sie einzeln zu ihm hinein, denn sie erhofften sich alle große Vorteile davon. Der Fuchs hatte eine Zeit lang in der Nähe der verbracht und das Kommen beobachtet. Dann trat er vorsichtig vor den Eingang und rief höflich: „Herr König, ich wünsche Euch ewige Gesundheit und einen guten Abend!“ „Ha, Rotpelz, du kommst sehr spät“, ächzte der Löwe, als läge er wirklich schon in den letzten Zügen, „hättest du noch einen länger gezögert, so wärest du nur noch einem toten begegnet. Sei mir trotzdem herzlich willkommen und erleichtere mir meine letzten Stunden mit deinen heiteren Geschichten.“ „Edler König“, sprach der Fuchs demütig, „Ihr gebt mir ein schweres Rätsel auf. Unzählige Spuren im Sand führen in Eure Burg hinein, aber keine einzige wieder heraus, und Eure Festung hat nur einen . Mein Gebieter, Ihr seid mir zu klug. Ich will Euch nicht mit meiner Dummheit beleidigen und lieber wieder fortgehen. eines aber will ich für Euch tun, ich werde dieses für mich behalten.“ Der verabschiedete sich und ließ den Löwen allein. 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 Setze die fehlenden Wörter an der richtigen Stelle ein: Besprecht in Kleingruppen, was man aus dieser Geschichte lernen kann. Findet die Begründung dafür in der Fabel. 1 Tiere sind weder gut noch böse, sondern handeln nur nach ihrem Instinkt. Die den Tieren zugesprochenen menschlichen Eigenschaften sollen die Menschen über ihr eigenes Verhalten nachdenken lassen. Merke Höhle Fuchs Eingang Rätsel Tag Löwen König C 2 Epische Kleinformen 17 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

Wie man durch Dummheit berühmt werden kann – Eine Schildbürgergeschichte untersuchen Nacherzählt von Erich Kästner: Die Schildbürger bauen ein Rathaus Der Plan, das neue Rathaus nicht viereckig, sondern dreieckig zu bauen, stammte vom Schweinehirten. Er hatte, wie schon gesagt, den Schiefen Turm von Pisa erbaut, der mittlerweile eine Sehenswürdigkeit geworden war, und erklärte stolz: „Ein dreieckiges Rathaus ist noch viel sehenswerter als ein schiefer Turm. Deshalb wird Schilda noch viel berühmter werden als Pisa!“ Die anderen hörten das mit großem Behagen. Denn auch die Dummen werden gerne berühmt. Das war im Mittelalter nicht anders als heute. So gingen also die Schildbürger schon am nächsten Tag morgens um sieben an die Arbeit. Und sechs Wochen später hatten sie die drei Mauern aufgebaut. In der dem Marktplatz zugekehrten Breitseite war ein großes Tor ausgespart worden. Und es fehlte nur noch das Dach. Nun, auch das Dach kam bald zustande, und am Sonntag darauf fand die feierliche Einweihung des neuen Rathauses statt. Sämtliche Einwohner erschienen in ihren Sonntagskleidern und begaben sich, mit dem Schweinehirten an der Spitze, in das weiß gekalkte, dreieckige Gebäude. Doch sie waren noch nicht an der Treppe, da purzelten sie auch schon durcheinander, stolperten über fremde Füße, traten irgendwem auf die Hand, stießen mit den Köpfen zusammen und schimpften wie die Rohrspatzen. […] Es gab ein fürchterliches Gedränge! Endlich landeten sie alle, wenn auch zerschunden und mit Beulen und blauen Flecken, wieder im Freien, blickten einander ratlos an und fragten aufgeregt: „Was war denn eigentlich los?“ Da kratzte sich der Schuster hinter den Ohren und sagte: „In unserem Rathaus ist es finster!“ – „Stimmt!“, riefen die andern. Als aber der Bäcker fragte: „Und woran liegt das?“, wussten sie lange keine Antwort. Bis der Schneider schüchtern sagte: „Ich glaube, ich habe es.“ – „Nun?“ – „In unserem neu2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 en Rathaus“, fuhr der Schneider bedächtig fort, „ist kein Licht!“ Da sperrten sie Mund und Nase auf und nickten zwanzigmal. Der Schneider hatte recht. […] Am Abend trafen sie sich beim Ochsenwirt, tranken eins und beratschlagten, wie man Licht ins Rathaus hineinschaffen könne. […] Erst nach dem fünften Glas Braunbier fiel dem Hufschmied das Richtige ein. „Das Licht ist ein Element wie das Wasser“, sagte er nachdenklich. „Und da man das Wasser in Eimern ins Haus tragen kann, sollten wir es mit dem Licht genauso machen!“ – „Hurra!“, riefen sie alle. „Das ist die Lösung!“ Am nächsten Tag hättet ihr auf dem Marktplatz sein müssen! […] Überall standen Schildbürger mit Schaufeln, Spaten, Besen und Mistgabeln und schaufelten den Sonnenschein in Eimer und Kessel, Kannen, Töpfe, Fässer und Waschkörbe. Andere hielten große, leere Kartoffelsäcke ins Sonnenlicht, banden dann die Säcke geschwind mit Stricken zu und schleppten sie ins Rathaus. Dort banden sie die Säcke auf, schütteten das Licht ins Dunkel und rannten wieder auf den Markt hinaus, wo sie die leeren Säcke von neuem aufhielten und die Eimer und Fässer und Körbe wieder voll schaufelten. Ein besonders Schlauer hatte eine Mausefalle aufgestellt und fing das Licht in der Falle. So trieben sie es bis zum Sonnenuntergang. Dann wischten sie sich den Schweiß von der Stirn und traten gespannt durch das Rathaustor. Sie hielten den Atem an. Sie sperrten die Augen auf. Aber im Rathaus 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 66 68 70 72 74 18 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

war es genauso dunkel wie am Tag zuvor. Da ließen sie die Köpfe hängen und stolperten wieder ins Freie. Wie sie so auf dem Marktplatz herumstanden, kam ein Landstreicher des Weges und fragte, wo es denn fehle. Sie erzählten ihm ihr Missgeschick und dass sie nicht ein noch aus wüssten. Er merkte, dass es mit ihrer Gescheitheit nicht weit her sein konnte, und sagte: „Kein Wunder, dass es in eurem Rathaus finster ist! Ihr müsst das Dach abdecken!“ Sie waren sehr verblüfft. Und der Schweinehirt meinte: „Wenn dein Rat gut sein sollte, darfst du bei uns in Schilda bleiben, solange du willst.“ – „Jawohl“, fügte der Ochsenwirt hinzu, „und essen und trinken darfst du bei mir umsonst!“ […] Tags darauf deckten die Schildbürger das Rathausdach ab, und – o Wunder! – mit einem Male war es im Rathaus sonnenhell! Jetzt konnten sie endlich ihre Ratssitzungen abhalten, Schreibarbeiten erledigen, Gemeindewiesen verpachten, Steuern einkassieren und alles Übrige besorgen, was während der Finsternis im Rathaus liegen geblieben war. Da es damals Sommer war und ein trockener Sommer obendrein, störte es nicht weiter, dass sie kein Dach überm Kopf hatten. Und der Landstreicher lebte auf ihre Kosten im Gasthaus, tafelte mittags und abends, was das Zeug hielt, und kriegte einen Bauch. Das ging lange Zeit gut. Bis im Herbst graue Wolken am Himmel heraufzogen und ein Platzregen einsetzte. Es hagelte sogar. Und die Schildbürger, die gerade in ihrem Rathaus ohne Dach saßen, wurden bis auf die Haut nass. […] Als sie am nächsten Tag mit warmen Tüchern um den Hals und mit roten, geschwollenen Nasen zum Ochsenwirt kamen, um den Landstreicher zu fragen, was sie nun tun sollten, war er verschwunden. Da sie nun niemanden hatten, der ihnen hätte helfen können, versuchten sie es noch ein paar Wochen mit dem Rathaus ohne Dach. Als es dann aber gar zu schneien begann und sie wie die Schneemänner am Rathaustisch hockten, meinte der Schweinehirt: „Liebe Mitschildbürger, so geht es nicht weiter. Ich beantrage, dass wir, mindestens für die nasse Jahreszeit, das Dach wieder in Ordnung bringen.“ Sein Antrag wurde von allen, die sich erkältet hatten, angenommen. Es waren die meisten. Und so deckten sie den Dachstuhl, wie vorher, mit Ziegeln. Nun war es im Rathaus freilich wieder stockfinster. Doch diesmal wussten sich die Schildbürger zu helfen. Sie steckten sich einen brennenden Holzspan an den Hut. Und wenn es auch nicht sehr hell war, so konnten sie einander doch wenigstens ungefähr erkennen. Leider begannen die Späne nach einer Viertelstunde zu flackern. Nach einer halben Stunde roch es nach angebrannten Hüten. Und schon saßen die Männer, wie vor Monaten, im Dunkeln. Es war sehr still geworden. Sie schwiegen vor lauter Erbitterung. Plötzlich rief der Schuster aufgeregt: „Da! Ein Lichtstrahl!“ Tatsächlich! Die Mauer hatte einen Riss bekommen, und durch ihn tanzte ein Streifen Sonnenlicht! Wie gebannt starrten sie auf den goldenen Gruß von draußen. „O wir Esel!“, brüllte da der Schweinehirt. „Wir haben ja die Fenster vergessen!“ […] So war es. Sie hatten tatsächlich die Fenster vergessen! Sie stürzten nach Hause, holten Spitzhacken, Winkelmaß und Wasserwaage, und noch am Abend waren die ersten Fenster fix und fertig. So wurden die Schildbürger zwar nicht wegen ihres dreieckigen Rathauses, sondern vielmehr wegen ihrer vergessenen Fenster berühmt. Es dauerte nicht lange, so kamen auch schon die ersten Reisenden nach Schilda, bestaunten die Einwohner, übernachteten und ließen überhaupt ein gutes Stück Geld in der Stadt. […] 76 78 80 82 84 86 88 90 92 94 96 98 100 102 104 106 108 110 112 114 116 118 120 122 124 126 128 130 132 134 136 138 140 142 144 146 148 150 152 154 156 158 160 Kläre, welche Funktion der Schweinehirt, der Schuster, der Schneider und der Hufschmied haben. Markiere dazu die Textstellen, an denen diese vier Personen Entscheidendes für den Fortgang der Geschichte beitragen. Finde alle Möglichkeiten, wie die Schildbürger Licht ins Rathaus bringen. Schreibe in dein Heft. 1 N 2 Epische Kleinformen 19 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

Nacherzählt von Erich Kästner: Münchhausen: Das Pferd auf dem Kirchturm Meine erste Reise nach Russland unternahm ich mitten im tiefsten Winter! Denn im Frühling und im Herbst sind die Straßen und Wege in Polen, Kurland und Livland vom Regen so zerweicht, dass man stecken bleibt, und im Sommer sind sie knochentrocken und so staubig, dass man vor lauter Husten nicht vorwärts kommt. Ich reiste also im Winter und, weil es am praktischsten ist, zu Pferde. Leider fror ich jeden Tag mehr, denn ich hatte einen zu dünnen Mantel angezogen, und das ganze Land war so zugeschneit, dass ich oft genug weder Weg noch Steg sah, keinen Baum, keinen Wegweiser, nichts, nichts, nur Schnee. Eines Abends kletterte ich, steif und müde, von meinem braven Gaul herunter und band ihn, damit er nicht fortliefe, an einer Baumspitze fest, die aus dem Schnee herausschaute. Dann legte ich mich, nicht weit davon, die Pistolen unterm Arm, auf meinen Mantel und nickte ein. Als ich aufwachte, schien die Sonne. Und als ich mich umgeschaut hatte, rieb ich mir erst einmal die Augen. Wisst ihr, wo ich lag? Mitten in einem Dorf, und noch dazu auf dem Kirchhof! Donner und Doria!, dachte ich. Denn wer liegt schon gerne kerngesund, wenn auch ziemlich verfroren, auf einem Dorfkirchhof? Außerdem war mein Pferd verschwunden! Und ich hatte es doch neben mir angepflockt! Plötzlich hörte ich’s laut wiehern. Und zwar hoch über mir! Nanu! Ich blickte hoch und sah das arme Tier am Wetterhahn des Kirchturms hängen! Es wieherte und zappelte und wollte begreiflicherweise wieder herunter. Aber wie, um alles in der Welt, war’s denn auf den Kirchturm hinaufgekommen? Allmählich begriff ich, was geschehen war. Also: Das Dorf mitsamt der Kirche war eingeschneit gewesen, und was ich im Dunkeln für eine Baumspitze gehalten hatte, war der Wetterhahn der Dorfkirche gewesen! Nachts war dann das Wetter umgeschlagen. Es hatte getaut. Und ich war, während ich schlief, mit dem schmelzenden Schnee Zentimeter um Zentimeter hinabgesunken, bis ich zwischen den Grabsteinen aufwachte. Was war zu tun? Da ich ein guter Schütze bin, nahm ich eine meiner Pistolen, zielte nach dem Halfter, schoss ihn entzwei und kam auf diese Weise zu meinem Pferd, das heilfroh war, als es wieder Boden unter den Hufen hatte. Ich schwang mich in den Sattel, und unsre abenteuerliche Reise konnte weitergehen. 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 Münchhausen – Merkmale einer Lügengeschichte kennenlernen 20 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

Unterstreiche die Stellen im Text, an denen klar erkennbar ist, dass Münchhausen Lügengeschichten erzählt. Welche zwei Möglichkeiten findest du auf dieser Seite, um zu klären, was das Wort Kirchhof bedeutet? Schreibe in dein Heft. Versuche, selbst eine Lügengeschichte zu formulieren. Es wird dir sicher gelingen, wenn du einen Lebensbereich oder ein Ereignis auswählst, an dem du Freude hast (etwa Sport, Computer, Kino, Wandertag, Praterbesuch). Die Lügengeschichte könnte so beginnen: Schildere die Ausgangssituation: Als ich wieder einmal alleine zu Hause war, Nun kommt das merkwürdige Erlebnis: Jetzt erst merkte ich, dass Formuliere die eigenartige Erklärung: Was war geschehen? Zum Schluss beteure, dass alles wirklich wahr ist und du es so erlebt hast. Ich weiß, es klingt seltsam, aber 1 2 N Merkmale einer Lügengeschichte • „Lüge“ bedeutet hier keinen Betrugsversuch, sondern eine frei erfundene Geschichte. • Es wird ein höchst merkwürdiger Vorfall erzählt, wobei die Erklärung für dessen Entstehung eine überraschende Wendung nimmt und sehr seltsam ausfällt („erstunken und erlogen“). • Die Lügengeschichte soll durch ihre Unwahrscheinlichkeiten unterhalten und erfreuen. • Sie wird immer aus der Ich-Perspektive und im Präteritum erzählt. Merke N 3 Epische Kleinformen 21 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

Alte Weisheiten in neuem Gewand – Eine moderne Fabel kennenlernen James Thurber: Was dem Ackergaul Karl widerfuhr Ein Ackergaul namens Karl wurde eines Tages von seinem Besitzer in die Stadt zum Hufschmied gebracht. Niemand auf dem Gutshof hätte davon Notiz genommen, wäre nicht Eva gewesen, eine Ente, die sich dauernd vor der Küchentür des Wohnhauses herumdrückte, neugierig lauschte und alles, was sie hörte, falsch verstand. Die anderen Tiere sagten von ihr, sie habe zwei Schnäbel, aber nur ein Ohr. Karl wurde also weggeführt, um beschlagen zu werden, und wenig später lief Eva laut quakend im Hof umher. Aufgeregt erzählte sie ihren Gefährten, dass man Karl in die Stadt gebracht habe, um ihn zu erschlagen. „Sie haben ein unschuldiges Pferd getötet!“, rief Eva. „Er ist ein Held! Ein Märtyrer! Er ist für unsere Freiheit gestorben!“ „Er war das wunderbarste Pferd der Welt“, schluchzte eine sentimentale Henne. „Na, für mich war er einfach der alte Karl und weiter nichts“, sagte eine realistisch denkende Kuh. „Müsst ihr denn gleich so rührselig werden?“ „Er war unübertrefflich!“, schrie eine leichtgläubige Gans. „Wann und wo hat er sich denn hervorgetan?“, fragte eine Ziege. Eva, der es zwar an Sinn für Genauigkeit, nicht aber an Erfindungsgabe mangelte, ließ ihre lebhafte Fantasie spielen. „Es waren Schlächter, die ihn weggeführt haben, um ihn zu erschlagen“, kreischte sie. „Wenn Karl nicht gewesen wäre, hätten sie uns alle im Schlaf umgebracht.“ „Ich habe keine Schlächter gesehen, und dabei kann ich in stockfinsterer Nacht ein ausgebranntes Glühwürmchen sehen“, sagte eine Eule. „Ich habe auch keine Schlächter gehört, und dabei kann ich eine Maus über Moos laufen hören.“ „Wir müssen ein Denkmal für Karl den Großen bauen, für unseren Lebensretter“, schnatterte Eva. Und alle Vögel und Tiere auf dem Gutshof – ausgenommen die weise Eule, die skeptische Ziege und die realistisch denkende Kuh – machten sich daran, ein Denkmal zu errichten. Sie hatten gerade mit der Arbeit angefangen, als der Bauer die Straße entlangkam. Er führte Karl am Halfter, und die neuen Hufeisen schimmerten im Sonnenlicht. Es war ein Glück, dass Karl den Hof nicht allein betrat, denn sonst wären die Tiere vermutlich mit Knüppeln und Steinen über ihn hergefallen, weil er durch seine Rückkehr den Mythos vom heldenhaften Karl zerstörte. Es war auch ein Glück, dass sich die Eule schleunigst auf die Wetterfahne der Scheune geflüchtet hatte, denn niemand ist verhasster als derjenige, der es besser gewusst hat. Die sentimentale Henne und die leichtgläubige Gans lenkten schließlich die Aufmerksamkeit auf die wahre Schuldige, auf Eva, die Ente mit zwei Schnäbeln und einem Ohr. Alle fielen über sie her und teerten und entfederten sie, denn niemand ist unbeliebter, als der Überbringer von Trauerbotschaften, die sich später als falsch erweisen. Moral: Entweder hör’ dreimal hin oder halte den Mund; voreilige Schlussfolgerungen sind ungesund. 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 66 22 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

Josef Guggenmos: Zwei Meisen fanden ein A Zwei Meisen fanden ein A. Jede wollte es haben. Hört, was geschah. Die eine hat’s an sich gerissen. Juchhe, ihr ist es geglückt! Drauf hat die Meise ohne A Die Ameise aufgepickt. Man sollte nicht alles haben wollen, das ist’s, was wir uns merken sollen. Notiere, was den Text von James Thurber von einer traditionellen Fabel, wie du sie z.B. von Aesop (auf Seite 17) kennengelernt hast, unterscheidet. Schreibe „Was dem Ackergaul Karl widerfuhr“ zu einer kurzen Fabel um. Gestaltet eine Fabel aus dem Gedicht „Zwei Meisen fanden ein A“. N 1 N 2 N B 3 Epische Kleinformen 23 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

Was soll es bedeuten? – Die Lehre in Fabeln entdecken Gianni Rodari: Die Geschichte vom jungen Krebs Ein junger Krebs dachte bei sich: „Warum gehen alle Krebse in meiner Familie immer rückwärts? Ich will vorwärts gehen lernen, so wie die Frösche, und mein Krebsschwanz soll mir abfallen, wenn ich es nicht fertigbringe.“ Und heimlich begann er, zwischen den großen Steinen seines heimatlichen Bächleins zu üben. […] Als er seiner Sache sicher war, stellte er sich vor seine Familie und sagte: „Jetzt schaut mir einmal zu!“ Und machte einen ganz prächtigen kleinen Lauf vorwärts. „Sohn“, brach da seine Mutter in Tränen aus. „Bist du denn ganz verdreht? Komm doch zu dir – gehe so, wie es dich dein Vater und deine Mutter gelehrt haben. Geh’ wie deine Brüder, die dich alle lieben.“ Seine Brüder jedoch lachten ihn nur aus. Der Vater schaute ihn eine gute Weile streng an und sagte dann: „Schluss damit! Wenn du bei uns bleiben willst, gehe wie alle Krebse. RÜCKWÄRTS! Wenn du aber nach deinem eigenen Kopf leben willst – der Bach ist groß –, geh fort, und komm nie mehr zu uns zurück!“ Der brave junge Krebs hatte die Seinen zwar zärtlich lieb, war aber so sicher, er handle richtig, dass ihm nicht die mindesten Zweifel kamen. Er umarmte seine Mutter, sagte Lebewohl zu seinem Vater und zu seinen Brüdern und machte sich auf in die Welt. Als er an einem Grüppchen Kröten vorüberkam, erregte er großes Aufsehen. […] „Jetzt geht die Welt verkehrt herum“, sagte eine dicke Kröte, „schaut euch nur diesen jungen Krebs an! Da müsst ihr mir recht geben!“ „Ja, Respekt gibt es überhaupt nicht mehr!“, sagte eine andere. […] Plötzlich hörte er, wie ein alter Krebs, an dem er vorüberging, rief. Der sah ganz melancholisch aus und hockte allein auf einem Stein. „Guten Tag“, sagte der junge Krebs. Der Alte betrachtete ihn lange, schließlich sagte er: „Was glaubst du, was du da Großartiges anstellst?! Als ich noch jung war, wollte ich auch den Krebsen das Vorwärtsgehen beibringen. Sieh mal, was mir das eingebracht hat! – Ich muss ganz allein leben, und die Leute würden sich lieber die Zunge abbeißen, als ein Wort an mich richten. – Hör auf mich, solange es noch Zeit ist! Bescheide dich, lebe wie die anderen! Eines Tages wirst du mir für meinen Rat dankbar sein!“ Der junge Krebs wusste nicht, was er antworten sollte und blieb stumm. Aber im Inneren dachte er: „Ich habe doch recht! Ich habe recht!“ Und nachdem er den Alten höflich gegrüßt hatte, setzte er stolz seinen Weg fort. Ob er weit kommt? Ob er sein Glück macht? Ob er alle schiefen Dinge dieser Welt gerade richtet? Wir wissen es nicht, weil er noch mit dem gleichen Mut und der gleichen Entschiedenheit dahinmarschiert wie am ersten Tag. Wir können ihm nur von ganzem Herzen „Gute Reise“ wünschen. 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 66 Welche Lehre würdest du dieser Fabel zuordnen? • Wer es macht, wie alle anderen, kommt weiter im Leben. • Wer anders ist, wird von allen beneidet. • Wer von der Richtigkeit seines Handelns überzeugt ist, soll es wagen. Begründe deine Entscheidung. Besprecht in der Klasse, wie ihr die Lehre dieser Fabel in euren Alltag übertragen könnt. 1 C 2 24 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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