Treffpunkt Deutsch 3 - Deutsch Sprachlehre, Leseheft

Fakten und Fiktion 37 Graf Dracula kommt deshalb selbst nach London. Als er Jonathan Harkers Braut Mina sieht, erinnert sie ihn an Elisabeth, seine große Liebe, die im 15. Jahrhundert aus dem Leben geschieden ist. Dr. Seward, dem Leiter einer Nervenklinik in London, fallen bald merkwürdige Veränderungen bei Patienten auf, und er beobachtet mit Sorge, dass Minas Freundin Lucy Westenra erkrankt und von Tag zu Tag blasser wird. Ratlos wendet er sich an seinen früheren Lehrer, Professor van Helsing. Der erfahrene und belesene Theologe und Mediziner kommt bald zu dem Schluss, dass ein Vampir die Ursache ist, und er verbündet sich mit Dr. Seward, Jonathan Harker, Lucy Westenras Verlobtem Lord Godalming, und dessen amerikanischem Freund Quincey Morris gegen ihn. In die von Dracula tagsüber als Ruhestätten benutzten Särge legen die Verschworenen geweihte Hostien, und sie hängen Knoblauchknollen ebenso wie Kreuze auf. Lucy ist schon nicht mehr zu retten: Um sie von ihrem schrecklichen Dasein als Untote zu erlösen, wird ihr ein Pfahl durchs Herz getrieben. Eilig kehrt Graf Dracula nach Transsilvanien zurück, um seinen Verfolgern zu entgehen. Aber die beherzten2 Männer stellen ihn vor seinem Schloss und pfählen ihn. Sein Ende empfindet Graf Dracula als Erlösung von einem Fluch, der ihn vierhundert Jahre lang am Sterben gehindert hat. 8 10 12 14 16 18 20 1 Schöngeist = Kunstliebhaber 2 beherzten = mutigen […] Dann vernahm ich das Rasseln von Ketten und das Dröhnen massiver Türriegel, die zurückgeschoben wurden. Ein Schlüssel drehte sich laut kreischend in dem scheinbar selten benutzen Schlüsselloch, und das große Tor ging auf. Innerhalb desselben stand ein hochgewachsener alter Mann, glatt rasiert, mit einem langen weißen Schnurrbart und schwarz gekleidet von Kopf bis zu den Füßen; kein heller Fleck war an ihm zu sehen. In der Hand hielt er eine altertümliche silberne Lampe, auf der ohne Zylinder oder Schirm eine Flamme brannte, sie warf lange, zitternde Schatten in der Zugluft des offenen Tores. Der alte Mann lud mich durch eine verbindliche Geste mit der Rechten ein, näher zu treten und sagte in vorzüglichem Englisch, aber mit einem fremdartigen Akzent: „Willkommen hier in meinem Hause! Treten Sie frei und freiwillig herein!“ Er machte keine Bewegung, um mir entgegenzugehen, sondern stand starr wie eine Statue, als hätte ihn sein Willkommensgruß in Stein verwandelt. In dem Augenblick aber, da ich die Schwelle überschritten hatte, trat er rasch auf mich zu, ergriff meine Hand und drückte sie dermaßen, dass ich zusammenzuckte; dabei war die Hand so kalt wie Eis, mehr wie die eines Toten als eines Lebenden. Dann sagte er: „Willkommen in meinem Hause. Kommen Sie frei herein. Gehen Sie gesund wieder und lassen Sie etwas von der Freude zurück, die Sie mit hereingebracht haben!“ Die Stärke des Handdruckes erinnerte mich dermaßen an den eisernen Griff des Kutschers, dessen Gesicht ich ja nicht gesehen hatte, dass ich einen Moment glaubte, er und der Mann, mit dem ich jetzt sprach, seien ein und dieselbe Person; ich fragte also, um sicherzugehen: „Graf Dracula?“ Er verbeugte sich höflich und erwiderte: „Ich bin Dracula und begrüße Sie, Herr Harker, in meinem Hause. Kommen Sie herein, Sie bedürfen des Essens und der Ruhe, die Nachtluft ist recht kühl.“ Während er so sprach, stellte er die Lampe auf eine kleine Konsole an der Wand und nahm mein Gepäck; er hatte es hereingetragen, noch ehe ich ihn daran hindern konnte. […] Sein Gesicht war ziemlich – eigentlich sogar sehr – raubvogelartig; ein schmaler, scharf gebogener Nasenrücken und auffallend geformte Nüstern. Die Stirn war hoch und gewölbt, das Haar an den Schläfen dünn, im übrigen aber voll. Die Augenbrauen waren dicht und wuchsen über die Nase zusammen; sie waren sehr buschig und in merkwürdiger Weise gekräuselt. Sein Mund, so weit ich ihn unter dem starken Schnurrbart sehen konnte, sah hart und ziemlich grausam aus; die Zähne waren scharf und weiß und ragten über die Lippen vor, deren auffallende Röte eine erstaunliche Lebenskraft für einen Mann in diesen Jahren bekundete. Die Augen waren farblos, das Kinn breit und fest, die Wangen schmal, aber noch straff. Der allgemeine Eindruck war der einer außerordentlichen Blässe. 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 66 68 70 72 74 76 78 80 82 84 86 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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