Fakten und Fiktion 43 Der Vater streichelt Suriakis Gesicht. „Da hast du heute aber einen sehr guten Tag gehabt, einen, den du bestimmt niemals vergessen wirst. Doch jetzt musst du klug sein. Wenn sie wirklich morgen wiederkommt, gibt sie dir bestimmt wieder Geld. Also sei dankbar und erzähl ihr, wie arm wir sind.“ Suriaki nickt strahlend. Sie möchte den Eltern gern noch eine viel größere Freude machen. Der Vater seufzt. „Gutes Kind! Warum musst ausgerechnet du mit einer solchen Krankheit geschlagen sein? Kann mir das jemand verraten?“ Suriaki wird am nächsten Tag von ihrem Bruder Suwano begleitet. Die deutsche Dame kommt mit ihrem Ehemann und bietet Suriaki an, einen Arzt zu besuchen, der sich ihre Augen ansehen soll. Sie ist Krankenschwester und erklärt Suriaki, dass manche Augenkrankheiten geheilt werden können und sie die Kosten für den Arztbesuch übernehmen möchte. Das Ehepaar will mit Suriakis Eltern sprechen, um eine Erlaubnis für die Untersuchung zu erhalten. Schließlich wendet sich die Dame an Suriaki. „Und du? Du hast noch gar nichts dazu gesagt. Möchtest du denn nicht, dass wir mit dir zum Arzt gehen?“ Es gibt nichts auf der Welt, das Suriaki sich sehnlicher wünscht, als endlich wieder richtig sehen zu können. Ob sie aber zum Arzt geht oder nicht, wird ganz allein der Vater entscheiden. Da darf ihm niemand reinreden – nicht Suwano, nicht die Mutter, nicht die Fremden. Und sie, Suriaki, schon gar nicht. […] An diesem Abend kehrt Suriaki erst sehr spät zur Hütte zurück. […] Der Vater kommt gleich zur Sache. „Suwano hat uns schon alles erzählt. Von uns aus dürfen sie ruhig kommen. Und wenn sie dir einen Arzt bezahlen wollen – bitte schön! Wir werden uns nicht sträuben.“ Alle besprechen aufgeregt das Geschehen. […] Suriaki sitzt nur stumm da. Es geht um sie, aber gerade das erscheint ihr unheimlich. Sie war doch sonst immer die Unwichtigste in der Familie. Suwano ist wichtig, weil er der älteste Sohn ist, der eines Tages vielleicht die Eltern ernähren wird. […] Ein Mädchen ist nie so wichtig wie ein Junge und eine Halbblinde auf Dauer nichts als eine Last. Wer will denn so eine schon heiraten? Bestimmt fürchten die Eltern, sie ewig ernähren zu müssen. […] Suriaki wartet gespannt auf das Ergebnis der Augenuntersuchung. „Was hat der Doktor gesagt?“, flüstert Suriaki der Mutter zu. Die Mutter schnäuzt sich und gibt ihrer Stimme einen schroffen Klang. „Na, was schon? Er glaubt, dass es für Medikamente bereits zu spät ist. Du … du musst operiert werden. Aber hier bei uns geht das nicht … In Deutschland, da ginge es vielleicht.“ Also doch, sie hat sich nicht verhört: Sie soll nach Deutschland, um dort operiert zu werden. Und das kann nur heißen, dass die Fremden sie mitnehmen wollen. Die Frau redet auf den Mann vom Hotel ein. Eifrig übersetzt er: „In Deutschland, in Köln, gibt es eine Spezialklinik für Augenkrankheiten. Dort könnte Ihre Tochter bestimmt geheilt werden, sagt Dr. Payung. Wenn Sie noch länger warten, wird es eines Tages auch dafür zu spät sein.“ Der Vater sagt noch immer nichts, steht nur steif da. Der Mann aus Deutschland tritt auf ihn zu […]. „Sie müssen jetzt vernünftig sein“, bittet der Mann den Vater. „In Deutschland könnte Ihre Tochter nicht nur geheilt werden, sie könnte dort auch zur Schule gehen, einen Beruf erlernen … Wir wollen Sie Ihnen ja nicht für immer wegnehmen. Irgendwann wird sie heimkehren. Das versprechen wir Ihnen.“ In Suriaki verkrampft sich alles. Zur Schule gehen, Beruf erlernen? Aber das dauert doch sicher alles sehr lange. Und sie will ja gar nicht operiert werden, sie hat Angst davor. Die Mutter will etwas sagen. Da reißt Suriaki sich plötzlich los, läuft zum Vater und klammert sich an ihm fest. Sie will nicht mit den Fremden mit, sie will hierbleiben, bei den Eltern und Geschwistern. Der Vater streichelt sie. „Wenn du nicht ganz blind werden willst, müssen wir dich fortgeben … So eine Augenoperation ist eine große Sache und sehr, sehr teuer. So viel Geld werden wir nie haben.“ 60 62 64 66 68 70 72 74 76 78 80 82 84 86 88 90 92 94 96 98 100 102 104 106 108 110 112 114 116 118 120 122 124 126 128 130 132 134 136 138 140 142 144 146 148 150 152 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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