Vielfach Deutsch 3, Leseheft

Als ich den Pullover überzog, sprach einer im Schlaf, in irgendeiner pechschwarzen Ecke zwischen Wänden, Schlafsäcken und Finsternis. Aber ich habe die Worte nicht verstanden. Es sind nutzlose, verbrauchte Worte, wie die tote Haut der Schlangen. Worte, denen niemand zuhört. Worte, die von einem Krieg erzählen, einer zurückbleibenden Familie, einem bestochenen Wächter, einer Grenze. Worte, die ich schon kenne. Manchmal ist irgendetwas anders in diesen Geschichten. Aber es sind immer nur Details. Ein Land, eine überwundene Grenze, wie sie überwunden wurde, wie viel Geld im Voraus bezahlt werden musste. Oder mit welchem Auto die Reise losging. Wir sind mit einem Simorgh Want Jeep in Kabul gestartet. Fünfzehn Erwachsene und ich. Wir haben uns zusammengedrückt. Aneinandergedrängt, gepresst, geknäuelt. Damit wir hineinpassten, haben wir uns fühllos gemacht wie Ziegen in einem zu kleinen Pferch, mit Köpfen, die aneinanderschlugen bei jedem Schlagloch, jeder Kurve, jedem Rand des Straßengrabens. Dann die Hitze, die beißenden Krämpfe, der Schweiß, der Staub, der im Hals kratzt. Das Auto zurücklassen, zu Fuß weitergehen, sich einem neuen Führer anvertrauen, der dir vielleicht helfen will, vielleicht aber auch bereit ist, dich zu verkaufen, zu verraten, weiteres Geld zu verlangen, damit er dich nicht den Grenzwächtern ausliefert. Und immer, vor allem anderen, der Durst. Die Reise ist für alle dieselbe. Zuerst war es kämpfen oder fliehen. Jetzt ist es nur noch hoffen und durchhalten. Was dann kommt, weiß man nicht. Uns verbindet der Lebensinstinkt, dieses Zusammennehmen aller Kräfte, wie es die Ameisen im Herbst machen: Beladen mit enormen Gewichten, marschieren sie dennoch vereint. Uns verbindet dieses Gehen im Dunkeln. Und der Glaube an ein Ankommen. Und die Angst. Aber meine Geschichte ist anders. Auch weil ich zwei in einem bin: zwei Namen, zwei Alter, zwei Wahrheiten. Und ein Geheimnis, das die beiden zusammenhält. Ja, meine Geschichte ist anders. Ich habe sie nie jemandem erzählt. 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 Aus: Antonella Sbuelz: Heute gehe ich nicht nach Hause. Arctis, Hamburg 2023. Aus dem Italienischen von Michaela Heissenberger. Jugendromane lesen und fortsetzen 41 4 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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