Im Roman Heute gehe ich nicht nach Hause rennen Aziz und Mattia in die Stadt. Mattia bringt Aziz zu einem sicheren Platz, holt etwas zu trinken und zu essen. Lies im folgenden Ausschnitt, wie es weitergeht. „Bist du allein hier?“, frage ich kauend. Wir haben fast alles verputzt. Wenn mein Bauch voll ist, erscheint mir die Welt besser. Er zögert. Hört auf zu essen. Dreht sich nicht zu mir um. Lässt den Kopf hängen. „Mein Vater ist bei mir“, sagt er langsam. „Und mein Onkel. Aber sie müssen erst … ankommen.“ Das scheint mir nicht ganz klar, aber ich beschließe, nicht nachzufragen. Der entscheidende Punkt ist ein anderer. Ich würde das wirklich gern alle fragen, die hierherkommen: „Warum bist du nicht zu Hause geblieben?“ Er schaut mich an. Wieder verblüfft. „Ich konnte nicht. Dort ist Krieg. Terror.“ Ich mache die Chipspackung leer, indem ich mir den Rest in den Mund kippe. Seltsam, wie leichtherzig man manche Fragen stellen kann, während man Chips knabbert und Coca-Cola nachgießt. „Und deine Mutter? Bleibt sie in Kabul?“ Seltsam, wie manche Antworten ein leichtes Herz in einen Klumpen verdutzter Scham verwandeln, deinen Arm in der Luft hängen lassen, die Coladose vor dir wie eine Minidrohne, die den Heimweg vergessen hat. Es gibt keine richtige Art, bestimmte Dinge zu sagen. Daher muss man sie entweder schnell sagen oder gar nicht. Aziz sagt es schnell. Es sind nur wenige Worte. „Meine Mutter wurde getötet.“ Seine Mutter wurde getötet. Der ganze Rest ist nichts als Lärm. Wo, wann, wie: nebensächlich. Hintergrund ohne Bedeutung. Sogar das Warum zählt wenig. Seine Mutter wurde getötet. Jedes Detail ist Ketzerei vor einer Wahrheit wie dieser. Ich schaue Aziz an. Aziz schaut mich an. Vor der Ungeheuerlichkeit dessen, was er gesagt hat, finde ich kein einziges Wort, das in diesem Moment Sinn ergäbe, in diesem exakten Augenblick der Nacht, auf dieser versteckten Treppenstufe, in dieser Vertrautheit, die gerade erst entstanden ist wie eine frische Blüte nach dem Gewitter. Also nehme ich seine Hand. Und drücke sie fest. Das ist alles. Aziz zuckt leicht zusammen. Wie es wilde Katzen tun, wenn sie unsicher sind, ob sie vertrauen oder davonlaufen sollen, wenn du sie ungelenk streichelst und mit erfundenen Namen rufst. Aber seine Hand rührt sich nicht. Sie bleibt meiner anvertraut. Meinem Griff ausgeliefert, zusammengedrückt. 12 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 die Ketzerei: Abweichen von einer verbreiteten bzw. als gültig erklärten Meinung Jugendromane lesen und fortsetzen 46 4 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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