105 Im Jahr 2018 wurde in Wien auf einem privaten Grundstück und privat finanziert ein Denkmal für die „Trümmerfrauen“ enthüllt. Presseaussendung zur Denkmalenthüllung für „Trümmerfrauen“, Wien (2018) Am Montag wurde unter Anwesenheit von Landeshauptmann-Stellvertreter Dominik Nepp bei der Mölker Bastei ein Denkmal zur Erinnerung an die „Trümmerfrauen“ enthüllt. […] Das Denkmal wurde auf Privatgrund errichtet und die Kosten dafür privat finanziert. Nepp hielt anlässlich der Enthüllung fest: „Jenen Frauen zu gedenken, die mit ihren bloßen Händen auch Wien von dem Schutt und Trümmern dieses fürchterlichen Krieges befreiten, dient dieses Denkmal. Ohne sie wäre der rasche Wiederaufbau nicht möglich gewesen.“ M3: Online auf: www.ots.at/presseaussendung/OTS_20181002_ OTS0088 (2.10.2018). Historikerinnen und Historiker kritisierten das Denkmal: Es bilde eine einseitige und keine differenzierte Sichtweise auf die Geschichte ab. Das andere Bild der Trümmerfrau Im Zuge des Gedenkens 1988 an das Ereignis des Anschlusses begann man die Gruppe der Trümmerfrauen differenzierter zu beschreiben. Die Arbeit einer Trümmerfrau wurde zwar als besondere Leistung der Frauen hervorgehoben, doch es wurde auch schon ihr Zwangscharakter benannt. Die Historikerin Irene Bandhauer-Schöffmann zur vergessenen Nachkriegsgeschichte (1987) Trümmerfrauen, heroisiert zum Symbol des Wiederaufbaus in der Nachkriegszeit, haben den Grundstein für das „Wirtschaftswunder“ der fünfziger Jahre gelegt. Sie haben – gezwungen und schlecht bezahlt – begonnen die Trümmer, die der Krieg der Männer hinterlassen hatte, fortzuräumen und die Ruinen wieder bewohnbar zu machen. M4: Schöffmann: Trümmerfrauen – ein Stück vergessener Nachkriegsgeschichte. In: Schulheft 46, 1987, S. 4. Auswertungen von Wiener Archiven dokumentieren den Einsatz von ehemaligen NS-Parteiangehörigen, die zur „Sühne“ zu den Aufräumarbeiten herangezogen wurden. Möglich wurde dies durch das „Verfassungsgesetz über die Durchführung von Notstandsarbeiten im Gebiete der Stadt Wien“ vom 1. September 1945. Die Historiker Martin Tschiggerl und Thomas Wallach zur erfundenen „Trümmerfrau“ (2022) Unsere Recherche in den verschiedenen Beständen zu den „Notstandsarbeiten“ in Wien ergab einige gut abgesicherte Befunde zur Trümmerbeseitigung als „Sühnearbeit“: Etwa 59 Prozent der eingesetzten Arbeitskräfte waren Männer. Die typische „Trümmerfrau“ war also – jedenfalls im Bereich der „Sühnearbeit“ – eigentlich ein „Trümmermann“. Der Anteil der von Frauen geleisteten Arbeiten im Zuge der sogenannten Notstandsarbeiten lag [bei] rund 41 Prozent […] Die Auswertung des Quellenmaterials bestätigt vielmehr die Hypothese, dass an der (nicht professionellen) Schutträumung der Monate unmittelbar nach Kriegsende nahezu ausschließlich zwangsverpflichtete ehemalige Nationalsozialistinnen und Nationalsozialisten beteiligt waren. M5: Tschiggerl/Walach: Die erfundene „Trümmerfrau“, 2018, S. 305 und 312. Es gab aber auch Frauen, die freiwillig bei den Aufräumungsarbeiten mithalfen, um einen Zuverdienst in Form von Lebensmitteln und etwas Geld zu erhalten. Viele Frauen mussten ihre Familie allein versorgen und gingen daher neben der Führung des Haushaltes und der Erziehung der Kinder arbeiten. Mit der Rückkehr der Männer aus dem Krieg wurden die Frauen wieder in ihre traditionellen Rollen und aus dem Erwerbsleben gedrängt. Die Soziologin Maria Pohn-Weidinger zum Bedeutungswandel des Begriffs (2014) So bezeichnete der Begriff 1945 all jene Frauen, die aufgrund ihrer organisierten nationalsozialistischen Vergangenheit von den Alliierten zu Aufräumarbeiten zwangsweise herangezogen wurden. […] Diese Bedeutung ist heute jedoch gänzlich aus dem (kollektiven) Alltagswissen verschwunden oder soll nicht mehr gewusst werden. Als ‚Trümmerfrauen‘ werden in der offiziellen Gedenkpolitik und vor allem in der mächtigen Bildpolitik alle Frauen bezeichnet, die am Wiederaufbau Österreichs beteiligt waren. M6: Pohn-Weidinger: Heroisierte Opfer, 2014, S. 13. Jetzt bist du dran: 1. Vergleiche M1 und M5. Finde heraus, welche Erklärung für die Beteiligung der Frauen an den Aufräumarbeiten jeweils angegeben wird. Ergänze die im Autorentext angeführte und weitere mögliche Erklärungen. 2. Die Fotografie M2 stammt aus dem Jahr 1946 und ist daher primär eine Quelle. Beurteile, ob der Titel der Fotografie mit dem Gezeigten übereinstimmt. 3. Arbeite die unterschiedlichen Darstellungen in M3 und M4 heraus. 4. Diskutiere anhand von M6 den Bedeutungswandel des Begriffes der Trümmerfrauen und dessen Instrumentalisierung. 5. Beurteile auf Basis deiner Ergebnisse die Materialien M1–M4 in Bezug auf den objektiven Sachverhalt. Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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