Alles Geschichte! 7, Schulbuch

133 Die Hauptphase der Dekolonisation (1945– 1975) Nach dem Zweiten Weltkrieg, der die europäischen Staaten geschwächt hatte, setzte die eigentliche Phase der Dekolonisation ein: In den nächsten drei Jahrzehnten gründeten 70 Kolonien souveräne Staaten. Damit war die europäische Kolonialherrschaft zu Ende. In der Resolution der Vereinten Nationen über das Selbstbestimmungsrecht der Völker und Nationen vom 16.12.1952 wurde festgelegt, dass die Voraussetzung für die Gleichberechtigung aller Menschen in der Schaffung von selbstständigen Staaten liegt. Der Ablauf der Unabhängigkeitsprozesse war in den einzelnen Kolonien unterschiedlich. Obwohl sie mit der internationalen Politik übereinstimmten, beharrten manche europäischen Länder auf ihren Kolonien (s. S. 136). Weiters wandelten sich während des Kalten Krieges Kolonialkriege zu Stellvertreterkriegen (s. S. 134). Auch in neuen Ländern der ehemaligen britischen Kolonien kam es zu Konflikten (s. S. 138, 140, 142). M3: Enrico Bertuccioli: African Chessboard: Corrupted politicians, dictators, terrorists, arms dealers, speculators, foreign countries … everyone’s waiting to make the next move … Karikatur, 2023 Veränderungen für die indigenen Bevölkerungen Die einheimische Bevölkerung in den Kolonien wurde von den Kolonialmächten benachteiligt und unterdrückt. Es kam zu Ausbeutung durch Zwangsarbeit, sozialer Benachteiligung und auch Völkermord. Es konnte sich aber auch eine einheimische Bildungsschicht formieren, die an westlichen Universitäten studierte, wie z.B. Mahatma Gandhi in England und Nelson Mandela in Südafrika. Diese bildete später häufig die politische Führungsschicht. Die anfängliche Forderung nach Gleichstellung mündete zusehends in Bestrebungen zur Erlangung der Unabhängigkeit der Kolonien. Doch nicht in allen Ländern war die breite Bevölkerung von den Vorteilen eines unabhängigen Staates überzeugt. Konstrukte aus der Kolonialzeit wie Grenzziehungen und europäische Gruppenzuordnungen, wie z. B. Stammzugehörigkeiten, wurden durch ihre Anwendung über mehrere Jahrzehnte gesellschaftliche und politische Realität. Die dadurch erzeugten Spannungen belasten manche Länder bis heute und erschwerten die Bildung einer Staatsidentität. Das Ende der Dekolonisation 1914 gab es weltweit über 160 Kolonialgebiete, 1945 registrierte die UNO 97 sogenannte Hoheitsgebiete ohne Selbstregierung. Heute leben noch etwa 2 Millionen Menschen in 17 dieser Gebiete, zwei liegen auf Kontinenten (Gibraltar/ Europa, die Westsahara/Afrika), die anderen sind Inseln. Der nigerianische Philosoph Olú fémi Tá íwò zu den Nachwirkungen des Kolonialismus Die Realität in der kolonialen Welt war, dass Kolonisierte und Kolonisatoren eine menschliche Welt bewohnten, die durch ständige Interaktionen im Alltag gekennzeichnet war, wie sie das soziale Leben mit sich bringt. Wenn wir jetzt so tun, als ob es keinen Austausch, keine gegenseitige Beeinflussung und keine Aneignungen in beide Richtungen gegeben hätte – von der Sprache bis zur Küche, von den Regierungsformen bis zur Religion, von der Musik bis zur Literatur –, dann verkennen wir, was wirklich geschehen ist. Es ist nicht abwegig festzustellen, dass nicht nur die Kolonisatoren verschiedene Elemente des Lebens von den Kolonisierten entliehen oder gestohlen haben, sondern das Gleiche umgekehrt für die Kolonisierten in Bezug auf die Kolonisatoren gilt. Wenn wir heute in Afrika in politischen Arrangements oder kulturellen Ausdrucksformen Elemente des Lebens finden, die denen während der Kolonialherrschaft ähneln oder sie nachahmen, dann ist es zumindest problematisch und in vielen Fällen wahrscheinlich falsch, ihr Fortbestehen auf die anhaltende Macht des Kolonialismus zurückzuführen. M4: Tá íwò : Dekolonisierung falsch verstanden. Online auf: www. welt-sichten.org (7.4.2024). Jetzt bist du dran: 1. Vergleiche Karte M1 mit den Daten des Transformations Index auf https://bti-project.org/. Untersuche die aktuellen politischen Veränderungen in drei ehemaligen Kolonien. 2. Rekonstruiere die möglichen Gründe für die Einstellung Orwells zu Kolonialmächten in M2. Verwende dazu seine Lebensgeschichte (z.B. www.orwellfoundation.com). 3. Arbeite die heutigen Einflüsse in Afrika aus der Karikatur M3 heraus. 4. Diskutiere die Sichtweise Tá íwò s in M4. Sammle Argumente, die dafür oder dagegen sprechen. Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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