144 3.8 Der Nord-Süd-Konflikt als Folge der Dekolonisation Auswirkungen der Kolonisation sind weltweit immer noch spürbar und werden als Nord-Süd-Konflikt bezeichnet. Sie äußern sich auf politischer, gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Ebene. Der Globale Norden und der Globale Süden Die Begriffe Globaler Norden und Globaler Süden lösen die früher gebräuchlichen Bezeichnungen Industrie-, Schwellen- und Entwicklungsländer ab. Sie sind allerdings nicht geografisch zu verstehen, sondern sollen Länder wertfrei charakterisieren. Ein Land des Globalen Südens ist wirtschaftlich, politisch oder gesellschaftlich benachteiligt, während ein Land des Globalen Nordens bevorzugt ist. Politische Stabilität der neuen Staaten Die aus den Kolonialgebieten entstandenen neuen Länder orientierten sich anfangs am westlichen Demokratiemodell. Den neuen Regierungen fehlte aber häufig der Rückhalt in der Bevölkerung. Denn das politische System wurde ebenfalls als kolonialer Import wahrgenommen und widersprach den Organisationsformen traditioneller Gesellschaften (wie z. B. in kleinen Verbänden lebende Menschen oder monarchistische Herrschaftsformen). Demokratisierungsbemühungen scheiterten oft an der Korruption im Verwaltungsapparat und an fehlenden Erfahrungen der politischen Entscheidungsträger. So kommt es auch heute immer wieder zu gewalttätigen Machtkämpfen, Militärputschen oder Bürgerkriegen und zur Errichtung von autoritären und diktatorischen Systemen. Der afrokaribisch-französische Schriftsteller und Politiker Aimé Césaire über Kolonialismus (1955) Dass ich […] dabei bleibe, dass das kolonisatorische Europa unredlich ist, wenn es sein kolonisatorisches Treiben im Nachhinein mit den greifbaren materiellen Fortschritten rechtfertigt, die unter kolonialer Herrschaft auf bestimmten Gebieten erzielt worden sind, […], dass niemand weiß, in welchem Stadium der materiellen Entwicklung die in Frage stehenden Länder heute ohne das europäische Eingreifen wären; dass technische Ausstattung und administrative Umgestaltung, kurzum die „Europäisierung“ Amerikas oder Asiens durchaus nicht – wie das Beispiel Japan beweist – an eine europäische Okkupation gebunden waren; dass die Europäisierung der nichteuropäischen Kontinente anders hätte vor sich gehen können als unter dem Stiefel Europas; dass dieser Europäisierungsprozess bereits im Gange war; dass er sogar verlangsamt wurde; dass er jedenfalls durch die Inbesitznahme seitens Europas deformiert worden ist. M1: Césaire: Über den Kolonialismus. 2017, S. 51. Umstrittene Grenzen Die Grenzen der Kolonialstaaten beruhten zum größten Teil auf Eroberungen und Verträgen zwischen den Kolonialmächten, ohne Rücksichtnahme auf religiöse oder kulturelle Unterschiede indigener Völker. Die neuen, unabhängigen afrikanischen Staaten wurden innerhalb dieser willkürlichen Grenzziehung errichtet. Viele Grenzen waren aber nicht genau geregelt oder wurden von den neuen angrenzenden Ländern zu ihrem historischen Einflussbereich gezählt. Die Folge sind gewaltsame Auseinandersetzungen und Kriege. M2: Unbekannt: Hans-Insel. Fotografie, 2012. Die nur 1,3 km² große Insel wurde 50 Jahre lang sowohl von Kanada als auch von Grönland (Dänemark) beansprucht. 2022 konnte der Konflikt durch die Teilung der unbewohnten Felsinsel beigelegt werden. Gesellschaftliche Konflikte: Beispiel Ruanda Auch ethnische Zugehörigkeit und Religion führen immer wieder zu blutigen Auseinandersetzungen. In Ruanda gipfelten sie 1994 in einem Völkermord. Die seit vorkolonialer Zeit bestehenden sozialen Schichten der Ackerbau betreibenden Hutu und der Viehzucht betreibenden Tutsi zählten beide zur selben Volksgruppe. Sowohl die deutsche als auch die darauffolgende belgische Kolonialmacht interpretierten die sozialen Unterschiede aber als „rassisch“ bedingt und bauten die Tutsi als Elite auf. Diese Differenzierung führte ab dem Ende der Kolonialzeit in Ruanda zu Gewalt zwischen den Hutu und den Tutsi. Nach der Ermordung des zur Gruppe der Hutu gehörenden Präsidenten 1994 setzte für 100 Tage ein systematisches Morden der Hutu-Mehrheit des Landes an der Tutsi-Minderheit ein. Als Frankreich militärisch intervenierte und eine Schutzzone im Land einrichtete, endete der Völkermord an etwa 800 000 Menschen. Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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