166 4.9 Österreichs Sozialstaat und Wirtschaft Der österreichische Sozial- bzw. Wohlfahrtsstaat Österreich entwickelte sich in der Zweiten Republik zu einem Sozial- bzw. Wohlfahrtsstaat. Die beiden Begriffe werden meist in derselben Bedeutung verwendet, heute wird Österreich eher als Sozialstaat bezeichnet. Der Staat übernimmt darin in bestimmten Bereichen die Zukunftsvorsorge und Existenzsicherung, darüber hinaus fördert er das Wohlergehen der Bevölkerung. Die ersten Sozialgesetze Die Grundlagen des heutigen Sozialstaates wurden bereits in der Monarchie geschaffen. Bis ins 19. Jh. hatten die Menschen keinerlei Absicherung und waren im Notfall auf die Familie oder karitative Einzelinitiativen angewiesen. Erst ab 1863 wurde eine erste Armenfürsorge und 1888/89 die Unfall- und Krankenversicherung für Arbeiter/innen und Betriebsbeamte eingeführt. Seit 1859 gab es ein Arbeitsverbot für Kinder unter 10 Jahren, welches 1885 auf Kinder unter 14 Jahren ausgeweitet wurde. 1909 trat das Gesetz zur Pensionsversicherung in Kraft. Eine erste Arbeitslosenversicherung für besonders Bedürftige wurde 1920 eingeführt. Sozialstaatliche Grundpfeiler Der österreichische Sozialstaat beruht zum einen auf dem Sozialversicherungsprinzip mit Pflichtversicherung bei Aufnahme einer Erwerbstätigkeit. Die Versicherungsleistungen hängen von Höhe und Dauer der Beitragsleistungen ab, sodass Einkommensunterschiede laufend fortgeführt werden. Gesetzliche Pflichtversicherung Dies bedeutet, dass der Staat den Einwohner/innen unter bestimmten Voraussetzungen durch entsprechende gesetzliche, finanzielle und organisatorische Maßnahmen eine umfassende soziale Sicherung und Vorsorge bietet. Das beinhaltet z. B. Kranken-, Unfall- und Pensionsversicherung. Diese sind verpflichtend, also nicht freiwillig. Im Unterschied zu anderen Staaten hat Österreich unterschiedliche Regelungen im Pensionssystem und in den Krankenversicherungen einzelner Berufsgruppen. Das gesetzliche Pensionssystem beruht auf dem Umlagesystem. Das bedeutet, dass die aktuell Erwerbstätigen die Pensionsbezieher/innen finanzieren. Zum anderen sind diverse staatliche Förderungen, z. B. die Familienbeihilfe, und die öffentliche Infrastruktur – wie Bildungs- und Freizeiteinrichtungen, geförderter Wohnbau, öffentlicher Verkehr und öffentliche Sicherheit – Leistungen eines Sozialstaates. Diese Leistungen werden durch Steuern finanziert, die in Österreich vor allem auf Einkommen und Konsummittel eingehoben werden. Bis Ende der 1970er-Jahre war der Sozialstaat in Österreich umfassend ausgebaut, ab den 1980er-Jahren wurden die Leistungen schrittweise verringert und der Zugang zu Leistungen wurde erschwert. Interessenverbände in Österreich Um die Interessen der Arbeitnehmer/innen sowie der Arbeitgeber/innen auszugleichen, wurden Interessenverbände eingerichtet, die teilweise gesetzlich verankert sind. Für Arbeitnehmer/innen sind das z. B. die Kammer für Arbeiter und Angestellte (kurz: Arbeiterkammer) und der Österreichische Gewerkschaftsbund, für Arbeitgeber/innen z.B. die Wirtschaftskammer, Landwirtschaftskammer und die Industriellenvereinigung. Für Arbeitnehmer/innen besteht heute in der Kammer für Arbeiter und Angestellte eine gesetzliche Pflichtmitgliedschaft, für Arbeitgeber/innen in der Wirtschaftskammer Österreich. Die Funktionärinnen und Funktionäre der Kammern werden von den Mitgliedern gewählt. Wirtschafts- und Sozialpartnerschaft Ein wichtiges Prinzip des österreichischen Sozialstaates ist die Wirtschafts- und Sozialpartnerschaft, kurz Sozialpartnerschaft. Sie bezeichnet die Zusammenarbeit der Interessenverbände der Arbeitnehmer/innen und Arbeitgeber/innen miteinander und mit der jeweiligen Regierung. Übergeordnete Ziele der Sozialpartnerschaft sind wirtschaftliches Wachstum und die Bewahrung des sozialen Friedens. Verhandlungsthemen sind unter anderem die jährlichen Abschlüsse von Kollektivverträgen, in denen die Löhne festgesetzt sind. M1: Thomas Wizany: Der Kinderbetreuungsteufelskreis. Karikatur, 2023. Anlass: Sozialpartner und Industriellenvereinigung fordern in Österreich einen Rechtsanspruch auf Kinderbetreuung. Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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