89 In dieser ersten Phase der Entnazifizierung sprachen die Volksgerichte harte Urteile, auch zum Tod, aus. Außerdem wurden allein im staatlichen Dienst 70 000 Personen entlassen. Mit der „Minderbelastetenamnestie“ von 1948 wurden in der zweiten Phase 90 % aller ehemaligen NS-Mitglieder von NSDAP, SA und SS auf einen Schlag entnazifiziert, ohne sie auf ihr Gedankengut zu überprüfen. Minderbelastet waren einfache NSDAP-Mitglieder ohne bestimmte Funktionen oder Ehrenabzeichen. Sie durften wieder ihr Wahlrecht und ihren Beruf ausüben. Gleichzeitig wurden immer häufiger Verurteilte amnestiert. Die letzte Anklage gegen einen NS-Täter wurde im Jahr 1999 erhoben. Friedrich Zawrel vs. Heinrich Gross Friedrich Zawrel wurde am 17. November 1929 geboren. […] 1941 wurde er in die Jugendfürsorgeanstalt „Am Spiegelgrund“ am Steinhof – dem Wiener Zentrum der NS-Tötungsmedizin – eingewiesen, wo kranke und geistig oder körperlich beeinträchtigte, aber auch als „schwer erziehbar“ oder „asozial“ bezeichnete Kinder eingesperrt bzw. ermordet wurden. Nachdem Friedrich Zawrel in den 1970er-Jahren wegen kleinerer Eigentumsdelikte angeklagt worden war, begegnete er Dr. Heinrich Gross erneut, der im Nachkriegsösterreich Karriere gemacht hatte und mittlerweile auch als Psychiater und gefragter Gerichtsgutachter tätig war. Friedrich Zawrel wurde aufgrund des Gutachtens von Dr. Gross, der dafür auch Teile aus der Spiegelgrund-Akte von Friedrich Zawrel verwendet hatte, verurteilt und in der Strafanstalt Stein inhaftiert. Mithilfe des Arztes Werner Vogt und der Arbeitsgemeinschaft Kritische Medizin und aufgrund der Aussagen von Friedrich Zawrel kam es zu einer öffentlichen Debatte und zu zwei Prozessen um die Rolle von Dr. Gross in der NS-Zeit. Erst 1999 wurde gegen Dr. Gross wegen seiner Mitwirkung an der NS-Kindereuthanasie Anklage erhoben. Zu einem Urteil kam es aufgrund des Ablebens von Dr. Gross im Jahr 2005 nicht mehr. M2: Online auf: www.nationalfonds.org/friedrich-zawrel (6.5.2024). Der Prozess gegen Eichmann in Jerusalem 1961 Eichmann war Protokollführer der Wannsee-Konferenz (s. S. 76) und von 1939 bis 1945 an der Organisation und Durchführung jüdischer Auswanderungen, Zwangsumsiedlungen und Deportationen in die Konzentrations- und Vernichtungslager führend beteiligt. Wie viele NS-Täter/ innen verteidigte er sich vor Gericht damit, er sei nur Befehlsempfänger gewesen, und berief sich auf Befehlsnotstand. Er wurde 1961 zum Tode verurteilt. M3: Unbekannt: Adolf Eichmann bei seinem Prozess. Fotografie, 11.4.1961 „Recht, nicht Rache“ – Simon Wiesenthal Die Organisation um Simon Wiesenthal war am Auffinden von Eichmann beteiligt. Wiesenthal hatte selbst die Haft in mehreren KZs überlebt und bemühte sich sein Leben lang, NS-Verbrecher/innen aufzuspüren. Mit Hilfe internationaler Geheimdienste konnten so einige Personen verhaftet und verurteilt werden. M4: Unbekannt: Simon Wiesenthal bei einer Demonstration gegen die Verjährung von NS-Morden in Deutschland. Fotografie, 30.1.1979 Jetzt bist du dran: 1. Fasse anhand des Autorentextes und des Infokästchens Intention und Beweggründe der Entnazifizierung zusammen. Notiere dir dazu Fragen. 2. Arbeite heraus, wie die Entnazifizierung in Österreich vor sich ging. Benenne Verteidigungsstrategien der ehemaligen NS-Mitglieder und Angeklagten. Notiere dir auch dazu Fragen. 3. „Recht, nicht Rache“ war Simon Wiesenthals Motto. Notiere dir dazu und zu den möglichen Hintergründen für die Aussage auf dem Plakat in M4 Fragen. 4. Formuliere deine Fragen an eine der folgenden Personen: an den Absender des Schreibens von M1, den Zeitzeugen Friedrich Zawrel (M2), an Adolf Eichmann (M3) oder Simon Wiesenthal (M4). Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
RkJQdWJsaXNoZXIy MjU2NDQ5MQ==